Drachentau
Zwillinge standen schon vorm Bett und betrachteten Bernhard.
»Das macht ja nichts, dass er blaue Augen hat«, sagte Emil.
»Ich finde seine Augen schön«, entgegnete Ella.
»Schön ja, aber blau. Bären haben braune Augen. Guck doch bei Mama.«
Emil zeigte auf Rosa. Die lachte und hob ihre beiden Ältesten ins Bett. Zu fünft wurde weitergekuschelt und der kleine Bruder ausgiebig beschnuppert und beleckt. Rosa nahm ihre Kinder in den Arm und spürte das Glück, das man fühlt, wenn man nach langer Einsamkeit nicht mehr allein auf der Welt ist.
Das Morgenlicht läutete das Ende der Nacht ein, auch wenn nicht viel davon in die kleine Höhle kam. Es war genug, um zu wissen, dass es eine Sonne gab. Rosa nahm den kleinen Bernhard auf den Arm und ging zu Tumaros. Aufrechten Ganges schritt sie ihm entgegen. Tumaros hielt seine Augen geschlossen.
»Darf ich dir vorstellen? Dein Sohn.«
Tumaros rührte sich nicht. »Du kommst spät Rosa. Ist er nicht schon in der Nacht geboren?«
Rosa wartete, dass er seine Augen öffnete. Schweigen. Seine Augenlider hoben sich.
»Schau, Tumaros. Ist er nicht schön?«
Jetzt bemerkte Tumaros seine blauen Augen und setzte sich auf. Eindringlich betrachtete und beschnupperte er das kleine Bärenbaby. »Er ist ein Drache«, stellte Tumaros fest.
Rosa lächelte sanft. »Er ist das Kind unserer Liebe.«
»Oder unseres Irrtums.«
»Ein Drachenkönig irrt niemals.«
Sie blickten sich an. Dann legte sich Tumaros wieder hin und schloss mit leisem Knurren die Augen.
Rosa ging zurück in ihre Höhle. Sie stillte Bernhard und bereitete das Frühstück für den Rest der Familie. Ihre drei Großen waren stolz auf den kleinen Bruder. Besonders Letizia, die nun nicht mehr die Kleinste war und auch einen Zwillingsbruder hatte, wie sie meinte. Rosa bemühte sich jeden Tag, ihre kleine Bande zu beschäftigen, brachte ihnen das Flechten bei, zeigte ihnen, wie man schnitzt, und ließ sie Spielzeug herstellen, das sie einer Fee schenkten, die es anderen Bären brachte. So sagte Rosa es ihren Kindern und abends stellte sie ihre Kunstwerke neben die Quelle am Höhleneingang. Wer sie dann tatsächlich wegnahm, wusste Rosa nicht, aber jeden Morgen waren sie verschwunden.
Die ersten zwei Monate ihres Lebens tun kleine Bären nichts anderes als trinken, schlafen und wachsen. Nicht so Bernhard. Er war die meiste Zeit wach und wollte sehen, was die Anderen taten. Bloß mitmachen ging noch nicht. Rosa tauchte nur noch in der Drachenhöhle auf, wenn sie hindurchgehen musste. Bernhard wollte mitkommen, was Rosa ihm strikt untersagte. Die Kinder mussten von Anfang an lernen, sich an Tumaros Regeln zu halten. Anders ging es nicht. Sie wusste nicht, was er tun würde, wenn es zum Konflikt mit den Kindern käme. Er würde den Kindern doch nicht ...? Nein, das konnte nicht sein. Aber er war ein Drache.
Rosa saß im Eingang der Höhle und briet Pilze für das Abendbrot. Tumaros lag mit geschlossenen Augen in der Ecke. Rosa wusste, dass er nicht schlief. An der Schwelle zur Bärenhöhle stand Bernhard und schaute zu ihr hinüber. Rosa gab ihm Zeichen, zurück in die Höhle zu gehen, aber er gehorchte nicht. Besorgt schaute sie zu Tumaros. Der rührte sich nicht. Ihre Zeichen wurden heftiger. Bernhard schüttelte den Kopf. Rosa stand auf und plötzlich gab es kein Halten mehr. Bernhard kam durch die Höhle zu Rosa gelaufen. »Geht nie über die Schwelle«, hatte Rosa immer wieder gesagt. Aber wo Mama war, da konnte es nicht gefährlich sein. Er hatte die halbe Höhle durchquert, da donnerte Tumaros Schwanz vor ihm auf den Boden und er lief mit voller Wucht dagegen. Rosa kam angelaufen, wollte um den Schwanz herum, aber Tumaros ließ sie nicht durch. Er knurrte leise, hatte die Augenbrauen eng zusammengezogen. Bernhard hielt sich den schmerzenden Kopf und fing an zu weinen.
»Sofort bist du still«, sagte Tumaros mit gedämpfter Stimme.
»Lass ihn mich zurückbringen.« Rosa versuchte, an Tumaros vorbeizukommen. Vergeblich. Bernhard fing an zu brüllen.
»Bitte, Tumaros, ich kann ihn beruhigen, lass mich doch durch.«
Drachen bittet man nicht. Um nichts. Er stieß einen heftigen Feuerstrahl an die Decke. Bernhard kreischte und rannte zur Bärenhöhle. Tumaros ließ ihn gehen. Aber nicht Rosa.
»Habe ich nicht gesagt, die Kinder bleiben hinten.«
Rosa wich zurück. »Es war ein Versehen, Tumaros. Es kommt nicht wieder vor. Bernhard ist doch noch klein.«
Tumaros spie noch einen Feuerstrahl, diesmal in Rosas
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