Drachentau
verloren. Ob es schon Abend war? Tatsächlich war sie erst seit einer Stunde im Tunnel. Dann erlosch ihre Kerze und ließ sich nicht mehr anzünden. Eschagunde begann zu zittern. Sie berührte mit der Hand ihren Zauberstab. Die Spitze schimmerte leicht bläulich. Leise stimmte sie einen feinen Gesang an, das Lied der Sterne. Die Sterne hörten es, durch alle Felsen hindurch und antworteten ihr. Die Luft wurde klarer. Sie konnte atmen. Der Gang weitete sich.
»Danke, meine Sternenschwestern«, flüsterte Eschagunde. »Ihr lasst mich auch in der Drachengruft nicht allein.«
Sie kroch weiter auf allen vieren vorwärts, tastete sich am Felsen entlang, zuversichtlich und doch das Schlimmste erwartend. In kleinen Schritten ging es voran, bis ihre Hände ins Leere griffen. Hier war das Ende. Aber sie konnte nicht sehen, ob unter ihr ein Abgrund, eine Höhle oder Sonstiges war. Einen Moment überlegte sie, ihren Zauberstab zu gebrauchen, um Licht zu machen. Schließlich musste sie sehen, wie es weiterging und ob es überhaupt weiterging. Aber der Einsatz von Zauberkraft käme dem Schellen an der Haustür gleich. Er könnte alle bisherige Mühe zunichtemachen.
Eschagunde beschloss, es noch einmal mit Tasten zu versuchen. Ihre Hände gingen ins Nichts. Sie fühlte nach ihrem Zauberstab. Nein, es musste ohne ihn gehen. Zurückkriechen und einen neuen Weg suchen, war immer noch besser, als entdeckt zu werden. Zaghaft beugte sie sich vor. Ihre Hände suchten am Felsen Halt, suchten nach Grund. Langsam, Stück für Stück, kroch sie vorwärts, genau darauf achtend, noch einen Rückweg zu haben.
Dann ging es schnell. Mit einem Mal verlor sie das Gleichgewicht, konnte sich nicht mehr halten und stürzte in die Tiefe. Mit leisem Aufschrei schlug sie auf. Wider Erwarten nicht sehr hart, der Boden war näher als sie dachte. Sie tastete den Felsen ab und fand sich in einer kleinen Höhle wieder, die immerhin Stehhöhe bot. Neben dem Gang, aus dem sie gekommen war, oder zumindest meinte gekommen zu sein, fand sie noch einen zweiten im rechten Winkel zum ersten. Ohne Zweifel der Gang, in dem es weiter ging.
Sie setzte sich hin, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Urplötzlich zog eine eisige Kälte in ihre Glieder und brachte die Ahnung von unfassbarem Grauen. Eschagundes Körper versteifte sich. Der Boden unter ihr begann leise zu vibrieren. Sie spürte, dass das Böse nah war. Dass es direkt unter ihr mit langen, kalten Zungen durch den Felsen nach ihr griff. Nicht das Böse der Drachenhöhle, das Böse der Urzeit war es, das in diesem Berg gefangen war.
Ich muss weiter, und zwar schnell, sonst bin ich hier verloren,
dachte Eschagunde.
Sie versuchte, sich zu bewegen, aufzustehen. Mit all ihren Kräften drückte sie sich vom Boden ab und wankte auf den Tunnel zu. Welcher war es noch? Keine Zeit zu überlegen! Ihre Füße wurden schwer wie Blei. Sie stemmte sich am Tunneleingang hoch, sank wieder hinunter, versuchte es noch einmal, sank wieder hinunter. Singe das Sternenlied, flüsterte eine Stimme in ihrem Herzen. Und sie sang. Ihre Füße wurden leicht, einen kurzen Moment. Lang genug, dass sie sich hochstemmen und in die Röhre rutschen konnte. Atemlos blieb sie liegen, noch immer eine eisige Kälte in ihrem Körper spürend.
Was um alles in der Welt war das? Hoffentlich habe ich es nicht aufgeschreckt.
Langsam erwärmte sie sich wieder. Der Gang war richtig. Er war noch enger als der vorige. Sie kroch langsam weiter. Er wurde größer, nur so viel, dass sie sitzen konnte. Dann war er zu Ende. Jetzt muss ich doch noch mit Zauberkraft graben, dachte Eschagunde. Ihre Hände betasteten den Felsen und suchten nach Orientierung. Sie ließ sie sinken und atmete tief ein. Erst einmal musste sie sich schlafen legen. Ausgeruht ging es besser. Ob es Tag war oder Nacht? Wie viele Stunden sie schon im Tunnel war? Eschagunde wusste es nicht. Sie nahm ihren Zauberstab in die Hand, legte sich hin und fiel in ihre Trance. Sie ahnte nicht, dass sie die Erholung aus dieser Rast noch bitternötig brauchen würde.
Ein leiser Luftzug streifte ihre Wangen und weckte sie. Erschrocken setzte sie sich auf. Wo kam hier unten, in der hintersten Stollenecke, ein Windzug her? Erdrückende Schwärze umgab sie. Sie tastete die Umgebung mit den Händen ab. Wieder kam ein Luftzug, direkt von vorne, und strich durch ihr Haar. Eschagunde holte ihre Kerze heraus und versuchte noch einmal sie anzuzünden. Tatsächlich, sie brannte. Felsen umgab sie.
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