Drachentau
Eschagunde sah, durch was für einen engen Gang sie gekrochen war. Ihr blieb beinahe die Luft weg.
Gut, dass ich nichts gesehen habe,
dachte sie, ließ ein wenig Wachs auf den Boden tropfen und stellte die Kerze dort auf.
Der Windzug war durch die Wand gekommen. Mit beiden Händen tastete sie und versuchte zu spüren, was sich in dem Gestein verbarg. Es war kalt, erwärmte sich aber unter ihren Händen. Sie spürte einen Zauber, wie sie ihn noch nie gespürt hatte. Aber keinen feindlichen, einen freundlichen. Der Felsen begann sich aufzulösen, verwandelte sich in einen Lichtvorhang und verschwand schließlich ganz. Es war eine Tür. Am Ende dieses alten Stollens war eine Tür zur Drachenhöhle.
Eschagunde schaute hinein und rieb sich die Augen. War es möglich? Vor ihr lag eine zauberhaft eingerichtete Bärenstube. Kunstvoll gefertigte Korbmöbel, Tisch, Stühle, ein Schrank und fünf Betten unterschiedlicher Größe. Die Wände waren mit Blättergirlanden verziert. Am Boden lag ein gewebter Teppich. Fackeln brannten an den Wänden, tauchten die Höhle in ein warmes Licht. Um den Tisch saßen vier Bärenkinder auf Weidenstühlen und schrieben eifrig auf Schiefertafeln. Auf dem größten Bett lag ein grauenvoll zugerichteter, schwer verwundeter Bär. Rosa. Eschagunde stach es ins Herz. Wer hätte auf einem Lavasee ein Floß vermutet? Sie holte noch einmal tief Luft und schritt hinein. Es musste schnell gehen.
Bernhard bemerkte sie zuerst. Seine großen, saphirblauen Augen schauten sie verwundert an. Eschagunde legte den Finger auf die Lippen. Bernhard nickte und schwieg. Schnell griff sie unter ihren Gürtel und holte den Beutel mit den Keksen hervor. Jetzt bemerkten sie auch die anderen. Keiner sagte etwas. Rosa versuchte, sich aufzusetzen. Sie hatte die Waldfee nie gesehen, aber erkannte sie sogleich.
Eschagunde deutete ihr an zu schweigen und legte die Kekse auf den Tisch. »Schnell, Kinder«, flüsterte sie, »esst einen Keks.«
Alle vier griffen zu und steckten den Keks in den Mund. Alle, bis auf Bernhard. Er schaute ihn sich an.
Eschagunde sah zum Tunnel. Der Lichtvorhang kam zurück. Sie musste sich beeilen, wenn sie die Höhle wieder verlassen wollte. Rosas Anblick hielt sie fest. Unter ihrem Gürtel holte sie eine Flasche mit einer rötlichen Essenz hervor und tropfte die Flüssigkeit auf Rosas Wunden.
»Meine Beine sind gebrochen«, hauchte Rosa, »ich kann nicht mehr laufen.«
Eschagunde nickte. Besorgt schaute sie zum Ausgang, der sich immer mehr verschloss. Sanft massierte sie Rosas Beine. Sie drückte ihre Hand und wandte sich zum Gehen.
Aus der Drachenhöhle hörte man Knurren und Poltern. Der erste Feuerstrahl schoss in die Bärenhöhle. Die Kinder schrien auf. Der Weidenschrank, dem Eingang am nächsten, fing Feuer. Der zweite Feuerstrahl traf gegen die Wand.
»Schnell Kinder, geht in die Ecke«, rief Eschagunde. Bernhard hielt noch immer seinen Keks in der Hand. Er fing an zu leuchten. Entschlossen lief er zu Rosa und steckte ihn ihr in den Mund. Sie wollte etwas sagen, versuchte den Keks wieder auszuspucken. Aber er löste sich sofort auf. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu schlucken. Rosa stiegen Tränen in die Augen. »Schatz, er war für dich«, brachte sie mühsam hervor und hielt Bernhards Hand.
»Aber du brauchst ihn doch, Mama.«
Tumaros tobte, spie ohne Pause Feuer. Der Fels um den Torbogen begann zu glühen. Eine schier unerträgliche Hitze breitete sich in der Höhle aus. Den Bären stand Schweiß auf der Stirn.
Himmel, wir müssen hier raus,
dachte Eschagunde. Sie zeigte auf den Ausgang. »Schnell, alle in den Stollen!«
»Wo denn?«, fragte Bernhard. Der Lichtvorhang färbte sich grau, wurde dunkler und verschwand. Es gab keinen Fluchtweg mehr. Der Boden erhitzte sich. Rosas Bett qualmte.
Eschagunde zog ihren Zauberstab. »Ihr schiebt die brennenden Möbel hinaus«, sagte sie zu Emil und Ella und zu Bernhard und Letizia: »Helft Rosa aufzustehen, bevor das Bett brennt.« Dann ging sie in die Drachenhöhle. Tumaros unterbrach seine Feuerbrunst.
»Sieh an, meine beste Feindin besucht mich«, sagte er hasserfüllt.
»Sie ist gekommen, um dir ein Ende zu bereiten, du Scheusal.«
Sie standen sich gegenüber. Sahen sich in die Augen. Die Luft knisterte. Lange hatte Tumaros auf diesen Augenblick gewartet. Endlos lange Sekunden stand die Welt still.
Dann brach der Kampf los. Tumaros stieß den heftigsten Feuerstrahl aus, den er hatte, wollte sie mit einem Schlag
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