Drachentochter
alarmieren.«
Ich schritt den Lesetisch der Länge nach ab. Da und dort stach mir aus den offenen Schriftrollen ein Wort ins Auge: Mythos, verboten, Tod. Doch ein rotes Portfolio entdeckte ich nicht. Ich rieb mir den Schädel. Der Druck war noch größer geworden. Lag das am Rattendrachen? Ich hob meine Kerze. Ganz am Ende des Saals warf etwas das Licht zurück. Nach ein paar Schritten stand ich vor einer Holzkassette, deren Glasdeckel die Größe einer offenen Schriftrolle hatte. Was mochte ein so edler Gegenstand gekostet haben?
Doch all meine Bewunderung für die hohe Handwerkskunst war wie weggeblasen, als ich mich vorbeugte und zwei handgroße Lederbände sah. Der eine war rot und mit schwarzen Perlen umwickelt; der andere war schwarz und seine Perlen waren weiß.
»Es ist hier!« Hochgefühl und Erleichterung durchströmten mich.
Gleich stand Ryko neben mir.
»Ist das Glas?« Er pochte auf den Deckel. »Herrlich!« Dann sah er, was in der Vitrine lag. » Zwei Schriften? Was ist das andere für eine?«
Ich untersuchte die Kassette. Sie hatte Scharniere an der Oberkante, ließ sich also wie eine Schachtel öffnen. »Da, halt mal meine Kerze«, sagte ich.
Vorsichtig schob ich die Finger unter den Glasdeckel und hob ihn an. Er ließ sich leicht aufklappen.
Ryko rückte mit den Kerzen näher heran. »Seht, auf dem schwarzen Leder befindet sich die gleiche Darstellung wie auf der Tür der Bibliothek.«
Obwohl er halb unter weißen Perlen verborgen war, ließ sich doch ein Kreis aus zwölf Kugeln erkennen.
Die Vorderseite des roten Portfolios war dagegen ganz schlicht, doch ins glatte Leder waren drei tiefe Furchen gegraben, als habe jemand die schwarzen Perlen entfernen wollen. Hatte Lord Ido es nicht öffnen können?
Ich streckte die Hand danach aus.
Es hob sich mir unvermittelt ein wenig entgegen. Bevor ich die Hand zurückreißen konnte, hatten sich die schwarzen Perlen schon vom Leder gelöst, glitten über meine Finger und schlangen sich mir ums Handgelenk. Ich schrie auf und zog Hand und Portfolio aus der Kassette. Ein metallischer Geschmack legte sich mir auf die Zunge, als mich eine nun schon vertraute Wut überkam: die gleiche Wut, die von den Schwertern in mich übergegangen war.
Ryko ließ die Kerzen fallen. »Ich befreie Euch davon!«
»Nein«, knurrte ich. Mit einer letzten Umschlingung hatten die Perlen den Lederband an meine Handfläche gebunden. Ich zog den Text an die Brust, um ihn vor Ryko zu schützen. Die Wut ebbte so schnell ab, wie sie gekommen war, und hinterließ in mir ein ruhiges Gefühl der Ganzheit.
»Nein, es ist gut«, sagte ich und drückte die Schrift an mich. »Es ist gut.«
Ryko musterte mich unsicher. »Na, wenn Ihr meint.« Dann betrachtete er den schwarzen Band. »Wird das auch bei dem da geschehen?«
»Das fass ich nicht an!«, stieß ich hervor, und wieder stieg die Wut in mir auf.
Ryko trat einen Schritt zurück. »Seid Ihr sicher, dass mit Euch alles in Ordnung ist?«
Ich massierte mir die Stirn, um den Zorn zu vertreiben. »Wir sollten gehen.« Ich wollte mich schnellstens von dem schwarzen Portfolio entfernen, und zwar möglichst weit. Ich verstand es nicht, aber der Drang brannte so stark in mir, als hätte ich einen Nagel durch die Hand getrieben bekommen.
»Ihr wollt den anderen Band also nicht mitnehmen?«
»Nein!« Ich atmete zitternd ein und zwang mich zur Ruhe. »Nein. Sollte er Lord Ido gehören, kann er eine amtliche Untersuchung veranlassen, falls er gestohlen wird.«
Ich schob den roten Lederband vorsichtig unter meinen Ärmel. Er widersetzte sich nicht: Die Perlen gaben ein wenig nach, zogen sich dann aber wieder fester zusammen.
Ryko bückte sich und hob die erloschenen Kerzen auf. »Ich zünde sie an der Lampe an.«
»Das mach ich«, sagte ich rasch. »Du schließt die Kassette. Ich möchte sie nicht mehr berühren.« Ich nahm die Kerzen und ging zur Bank an der Wand hinüber.
Der Beutel mit Sonnenpulver lag neben der Lampe. Ich sah mich verstohlen um. Ryko betrachtete völlig versunken die schwarz gebundene Schrift. Ich stellte mich so hin, dass er den Beutel nicht sehen konnte, und schob ihn hastig in die tiefe Tasche meines Gewands. Dann entzündete ich die Kerzen eilends an der Öllampe.
Als ich mich umdrehte, stieß Ryko einen Schrei aus, sprang von der Kassette zurück und rieb sich die Hand. Er sah mich an und in seinem Gesicht stand eine seltsame Mischung aus Schuldgefühl und Erschrecken. »Ich wollte den schwarzen Band
Weitere Kostenlose Bücher