Drachentochter
Ölfilm auf dem Wasser. Das rote Leder darunter hatte den samtenen Glanz eines Seehundfells, der nur durch die drei tiefen Kerben auf der Vorderseite gestört wurde. Mit angehaltenem Atem hob ich die Perle am Schnurende an. Es ging nicht ganz leicht, als wäre sie mit einem Gewicht beschwert, doch dann löste sie sich von meinem Unterarm. Eine Perle nach der anderen folgte und bald hing der Lederband nur noch lose an meinem Arm. Ich atmete auf, als ich die letzten Perlen abwickelte und die Schrift in meine Hand fiel. Klickend legten die Perlen sich mir als Armband lose ums Handgelenk.
Ich strich über die Kerben und betastete ihre rauen Kanten, die vom Scheitern eines anderen zeugten. Ob dieser andere Lord Ido war? Ich lachte kurz auf – die Perlen hatten den Text zwar nicht für das allmächtige Rattendrachenauge freigegeben, wohl aber für mich! Eine Lederzunge war durch eine Schlaufe gefädelt, um die Mappe geschlossen zu halten. Mit vor Aufregung unbeholfenen Fingern versuchte ich die Zunge herauszuziehen – vergeblich. Vielleicht hatte ich mich zu früh gefreut. Ich rieb die feuchten Fingerspitzen an meinem Gewand ab und versuchte es erneut. Schließlich bekam ich die Zunge aus der Schlaufe und hob den Lederdeckel an. Ich hatte eine Sammlung loser Blätter erwartet, stattdessen blickte ich auf ein dickes Bündel feinsten Papiers, das am linken Rand zusammengeheftet war. Ein Buch! Ich hatte so etwas schon mal in der Bibliothek meines Meisters gesehen – eine Rarität, die er in hohen Ehren hielt. Ich ließ meine Finger unter das Papierbündel gleiten und hob es an; es war auch mit dem Leder vernäht. Es war alles in einem Stück. Ich legte das Bündel wieder auf seinem Bett aus Leder ab, um die erste Seite zu betrachten. Auf dem Vorsatzpapier prangte eine Zeichnung des Spiegeldrachen in roter Tusche. Es handelte sich bloß um ein paar aufs Papier geworfene Linien, doch irgendwie bildeten sie die Macht und Majestät des Tiers ab. Dieses kostbare Buch enthielt die Geheimnisse des Spiegeldrachen! Irgendwo hier drin stand sein Name. Irgendwo hier drin lag meine Macht. Ich holte tief Luft und blätterte die Seite um.
Die sauberen Schriftzeichen ergaben keinen Sinn. Ich blinzelte und besah mir die Zeilen erneut. Noch immer nichts. Ich blätterte wieder um. Zeile für Zeile voller unbekannter Schriftzeichen. Ich schlug die nächste, die übernächste Seite auf – alle waren unlesbar. Ich überflog das ganze Buch in der Hoffnung, auch nur ein vertrautes Schriftzeichen zu finden, wenigstens eines.
»Nein«, keuchte ich, als ich die letzte Seite erreichte. »Nein.«
Ich hatte kein einziges Schriftzeichen erkannt.
Ich begann wieder von vorn und starrte auf das Papier, als könnte ich aus den verblichenen Zeichen Bedeutung saugen.
Vergeblich.
Verzweiflung heulte in meinem Kopf wie ein Taifun. Blind tastete ich nach dem Bett hinter mir und sank darauf nieder. Warum konnte ich die Schrift nicht lesen? Ein Schluchzer entrang sich meiner Brust, dann ein zweiter, der mir Atemnot bereitete und mich keuchen ließ. Ich konnte nichts gegen mein Weinen tun. All meine Enttäuschung und Angst strömten aus mir heraus. Was wäre, wenn Rilla mich hörte? Oder mein Meister? Ich krümmte mich und schob mir die Fingerknöchel in den Mund, um mein Elend zu dämpfen. Vielleicht sollte ich gar nicht hier sein. Womöglich war alles ein Versehen gewesen und der Spiegeldrache hatte mich überhaupt nicht gewollt. Ich sank auf den Rücken, kuschelte mich an das Buch und wimmerte in mich hinein.
Ich hatte keinen Drachennamen, keine wirkliche Macht. Keine Hoffnung.
Ich erwachte keuchend. Mein Mund war wie ausgedörrt und die Haut um meine Augen herum spannte vom Salz meiner Tränen. Ich lag unter einem seidenen Betttuch. Die Fensterläden waren geschlossen, doch an den Rändern der Lamellen schimmerte Tageslicht herein. Rilla musste ins Zimmer gekommen sein, während ich geschlafen hatte. Ich schlug das Betttuch zurück und entdeckte das Buch neben mir. Es war noch geöffnet. Und es war noch immer unleserlich für mich. Kein Wunder, dass sich seine Zeichen im Laufe der Nacht in eine mir vertraute Schrift verwandelt hatten. Ich schloss das Buch und nestelte die Lederzunge wieder durch die Schlaufe. Sofort lösten sich die schwarzen Perlen mit leisem Klicken von meinem Handgelenk, schlangen sich um das Buch und beförderten es wieder an meinen Unterarm. Warum banden sie das Buch an mich? Ich konnte es doch nicht einmal lesen!
Erneut
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