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Drachentochter

Drachentochter

Titel: Drachentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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Haus.
    Bis auf den gepflegten Teppich, der unsere Schritte dämpfte, war die Eingangshalle leer. Ich atmete den vertrauten Geruch von Kohlebecken, Fleischbrühe, Waschmitteln und Möbelpolitur ein. Den Geruch meines Zuhauses. Meines Meisters. Trauer ergriff mich und ich blieb bekümmert am Ende des Flurs stehen.
    »Mylord, darf ich zu Chart?«, fragte Rilla.
    »Natürlich.«
    Sie machte sich auf den Weg zum Küchenanbau.
    »Warte«, sagte ich. »Ich werde gleich im Hof eine Ansprache halten. Sorg dafür, dass alle zugegen sind – auch Chart.«
    Überrascht runzelte Rilla die Stirn. Dann nickte sie und eilte zu ihrem Sohn.
    Ich war allein im Flur. Links von mir befand sich die Tür zum offiziellen Empfangszimmer, einem der Räume, die ich nie hatte betreten dürfen. Ich öffnete die Flügeltür. Mein Meister hatte das Zimmer im traditionellen Stil möbliert und es enthielt den gleichen niedrigen Tisch, die gleichen harten Kissen und den gleichen Mattenteppich wie mein Empfangszimmer in den Päoniengemächern. Ich schloss die Tür wieder, denn meine Aufmerksamkeit richtete sich bereits auf ein anderes verbotenes Zimmer: auf das Schlafgemach meines Meisters.
    Es lag am anderen Ende des Flurs, der Bibliothek gegenüber. Das plötzliche Gefühl, ein Eindringling zu sein, ließ mich einen Moment lang vor der Tür innehalten. Dann drehte ich den Messingdrachen des Knaufs. Der Riegel glitt mit leisem Kratzen nach oben und die Tür ging auf.
    Die Fensterläden waren geöffnet und das Morgenlicht unterstrich die triste Einfachheit des großen Zimmers. Es war fast so karg eingerichtet wie meine alte Schlafstätte in einem der Lagerräume auf der Rückseite des Hauses und enthielt bloß ein hölzernes Bett, einen Kleiderschrank und ein Kohlebecken. Sonst nichts. Ich wusste, dass dieses Zimmer einst prächtiger eingerichtet gewesen war – die Mägde hatten von einem Teppich gesprochen, der so dick war, dass er täglich gebürstet werden musste, und von einem Wandschirm, den ein berühmter Künstler bemalt hatte –, doch mein Meister hatte viele der Möbel im Laufe der letzten Jahre verkauft.
    Ich ging über den nackten Fußboden zum Bett. Es war frisch mit ausgeblichenem Leinen bezogen. Vermutlich für mich. Ein beunruhigender Gedanke. Eine sorgsam gefaltete sandfarbene Baumwolldecke lag am Fußende des Bettes. Ich vergewisserte mich, dass mir niemand gefolgt war, beugte mich hinunter und schnüffelte an dem Stoff. Er roch sauber und wie an der Sonne gelüftet, aber nicht nach meinem Meister.
    Inmitten all der praktischen und unauffälligen Dinge sprang mir das leuchtende Rot einer lackierten Schatulle ins Auge, die auf einem kleinen Tisch stand, der anfangs nicht zu sehen gewesen war. Es handelte sich um den einzigen bunten Gegenstand im Zimmer. Ich umrundete das Bett, um mir die feine Handwerksarbeit näher anzusehen. Die Schatulle war mit Gold verziert, und in den Deckel war ein Schriftzeichen aus Jade eingelassen, das »doppelte Freude« bedeutete. Wahrscheinlich war das Kästchen viel Geld wert. Und doch hatte mein Meister es nicht verkauft.
    Hatte es ihm viel bedeutet? Ich nahm es in die Hand, doch es schien leer zu sein. Vielleicht war es alles, was von seinem einstigen Wohlstand übrig geblieben war. Ich strich mit der Fingerkuppe an den Kanten entlang, bis ich den kleinen gekrümmten Hebel ertastet hatte. Kaum hatte ich ihn mit dem Fingernagel angetippt, öffnete sich der Deckel.
    Im ersten Augenblick ergab der kleine Gegenstand in der Schachtel keinen Sinn. Er war zu weit von dem Ort entfernt, an dem ich ihn vermutet hätte.
    Mein Nadelkissen.
    Er musste es in meinem alten Kleiderschrank entdeckt haben. Warum lag es in dieser Schatulle? Verwahrt wie ein kostbarer Edelstein?
    Die Antwort war so schlicht wie das Zimmer:
    Weil es mir gehörte.
    Er hatte mich geliebt. Dieses Wissen stieg aus der gleichen dunklen Region auf, in der Eona lebte. Eigentlich hatte ich es immer gewusst. Und doch hatte ich es stets so weit wie möglich verdrängt. Was hätte ich sonst tun sollen? Und was hätte er sonst tun sollen?
    Ich strich mit der Fingerkuppe über das glatte, polierte Bambusholz. So ein schlichter Alltagsgegenstand und doch so hoch geschätzt – erst als kostbares Geschenk einer Sterbenden, dann als geheimes Andenken für einen Sterbenden.
    Ich spürte jemanden hinter mir und drehte mich um. Rilla stand in der Tür.
    »Der Haushalt ist versammelt, Mylord«, sagte sie. Dann fiel ihr meine Miene auf. »Was ist

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