Drachentochter
Rilla. Sie war wieder die Anmut selbst, doch ich ahnte, dass Irsa und die übrigen Mägde ihre mütterliche Vergeltung zu spüren bekommen würden. Mit einem knappen Händeklatschen trieb sie die Bediensteten zur Arbeit an.
Lon nahm Chart mühelos auf die Arme und folgte mir über den Hof ins Haus. Ich warf einen raschen Blick zurück, als wir durch den kühlen Flur gingen. Lon lauschte den aufgeregten Bemerkungen seines neuen Herrn. Er schien ein Talent dafür zu haben, die Worte aus den erstickten Lauten herauszupicken. Vielleicht war es auch nur so, dass er – ganz anders als Irsa – auf den Sinn und nicht auf den Unsinn dessen achtete, was Chart von sich gab.
Als ich die Bibliothek betrat, war ich nicht darauf gefasst, dass dort noch immer die Geister meines Meisters webten: Der letzte Text, mit dem er sich beschäftigt hatte, war auf dem Schreibtisch ausgerollt; eine Schreibfeder lag quer auf einem halb beendeten Brief; der Duft der Kräuter, die er gewöhnlich verbrannt hatte, um seine Konzentration zu steigern, hing noch in der Luft.
Der vertraute Kummer, den die Freude über die Freilassung meiner Freunde verdrängte hatte, kehrte zurück. Ich schloss die Tür, lehnte mich an die Wand, um nicht zu schwanken, und wies Lon mit einer Handbewegung zum Besucherstuhl, auf den er Chart behutsam absetzte.
»Danke, Lon«, sagte ich und zwang mich, an den Arbeitsplatz meines Meisters zu treten. Doch ich brachte es nicht fertig, mich hinter seinen Schreibtisch zu setzen. Noch nicht. »Geh zu Rilla und lass dir von ihr sagen, was du tun sollst. Und bitte sie, zu uns in die Bibliothek zu kommen.«
Lon verbeugte sich. »Ja, Mylord. Danke.« Er wandte sich an Chart und verneigte sich erneut. »Danke, Meister.«
Diese ungewohnte Respektsbekundung ließ Chart große Augen machen.
Ich wartete, bis Lon gegangen war, und sagte dann: »Seltsam, wenn die Leute sich vor einem verbeugen, was?«
Chart schlug die Hand an die Stirn. »Es macht mir … Kopfweh.« Er lächelte zu mir hoch. »Hast du dich … daran gewöhnt?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich habe mich an gar nichts gewöhnt.«
Er tastete nach dem Messinganhänger auf seiner Brust. »Manchmal … ist es wohl schwer … frei zu sein?«
Ich sah ihn durchdringend an. Alles war so rasch gegangen, dass mir noch gar nicht aufgefallen war, dass ich frei war. Aber genau das war ich natürlich – ich war ein Lord. Merkwürdig aber, dass ich mich ganz und gar nicht frei fühlte.
»Danke«, sagte Chart ernst und hob die Marke. »Das bedeutet Mutter … sehr viel. Und mir … auch.« Er holte tief Luft. »Der Meister … hat mir gesagt … ich soll dir … etwas ausrichten …« – er hielt inne – »… nach seinem Tod.«
»Was denn?« Ich hockte mich schwerfällig neben ihn. Hatte der Meister Chart gesagt, wie sehr er mich liebte? Wusste Chart, dass ich in Wirklichkeit gar kein Junge war? Sollte er die Wahrheit kennen, hatte er es gut vor mir verborgen.
»Er kam nachts … oft in die Küche … wenn er nicht schlafen konnte … um mit mir zu reden … er brauchte wen … zum Reden.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und be reitete sich auf einen weiteren langen Satz vor. »Es tat ihm … leid … er dachte … es sei das Beste … aber er bereut … dass er dich so … verletzt hat … er dachte … er hätte dich … getötet.«
»Mich getötet? Wovon redest du?«
»Als er … dir die Hüfte … brechen ließ … Daran wärst du … fast gestorben … Weißt du das … nicht mehr?«
»Er hat mir die Hüfte brechen lassen?«
Was redete Chart da? Es war ein Unfall gewesen. Ich war von einem Pferdewagen überfahren worden – kurz nachdem mein Meister mich aus der Saline geholt hatte.
Etwas sorgsam Verdrängtes rührte sich tief in mir und ließ mich innehalten. Trübe Bilder nahmen langsam die scharfen Umrisse einer furchtbaren Wahrheit an. Es hatte weder Pferd noch Wagen gegeben. Und keinen Unfall. Ich spürte, wie sich eine schreckliche Gewissheit meiner bemächtigte. Die Erinnerung an einen bitteren Geschmack und schwere Gliedmaßen, an einen großen Mann mit einer Tätowierung im Gesicht, der mit einem Hammer über mir stand. Und an Pein. An grässliche Pein.
»Warum?«, brachte ich krächzend hervor. »Warum?« Ich packte Chart am Arm. »Hat er dir erzählt, warum er das getan hat?«
Er wich in seinem Stuhl zurück. »Nein.«
Doch ich wusste, warum. Er hatte mich zum Krüppel gemacht, um Eona zu verstecken. Er hatte mich unberührbar
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