Drachentochter
nicht helfen, die Macht meines Drachen zu erschließen.
Dieser Tag entwickelte sich zu einem dauernden Wechselbad aus neuer Hoffnung und rauer Wirklichkeit.
Ich blickte erneut auf die in dicken Pinselstrichen ausgeführte Kalligrafie. Das Grundstück würde mir kaum zu überleben helfen, aber … es gab da doch mein unüberlegtes Versprechen, unter allen Umständen für die Sicherheit von Rilla und Chart zu sorgen.
Vielleicht hatte ich jetzt die Möglichkeit, es einzulösen.
»Und ich kann mit diesem Eigentum so verfahren, wie es mir beliebt?«, fragte ich.
»Ja, Mylord. Und wir raten den Erben in aller Regel dazu, ihre eigene unvermeidliche Reise in die Geisterwelt zu bedenken und möglichst früh ein Testament aufzusetzen.« Der dünne Beamte lächelte geschäftstüchtig. »Gegen eine kleine Gebühr.«
»Das ist ein guter Rat«, sagte ich und rollte das Pergament auf.
»Und ich werde ihn noch heute befolgen. Doch zunächst muss ich einige Dinge bedenken. Bleibt hier, bis ich zurückkomme.«
»Heute noch?«, fragte der Dünne leise. Er blickte auf die geschlossenen Fensterläden. Von draußen drangen erst der Krach eines Feuerwerks, dann Freudenrufe herein. Der Zwölfte Tag wurde nach Kräften gefeiert.
Ich ging zur Tür. »Genau das habe ich gesagt.«
Beide verneigten sich und der dicke Beamte blies vor Verdrossenheit die Backen auf. Er dachte zweifellos an das viele kostenlose Essen, das ihm nun entgehen würde.
Rilla saß mir in der mit schweren Vorhängen verschlossenen Sänfte gegenüber. Ihre ruhige Anmut war nervöser Erregung gewichen. Sie hatte einen Korb mit Essen im Schoß – übrig gebliebene Leckerbissen von meiner Tafel, die sie für Chart gesammelt hatte –, und ihre Hände umklammerten den Griff so fest, dass ich ihre Fingerknöchel durch die weiße Haut schimmern sah. Sie hatte ihren Sohn seit unserem Umzug in den Palast nicht mehr gesehen, und ich wusste, dass sie sich Sorgen machte. Ich gestattete mir ein kleines Lächeln; sie würde sich nicht mehr lange um sein Wohlergehen sorgen müssen. Der kurze Augenblick der Freude war wie ein tiefes Atemholen für mich. Es war eine ungeheure Erleichterung, einmal etwas anderes als dauernden Kummer und ständige Angst zu spüren. Ich hatte die Träger so bestellt, dass wir kurz nach Tagesanbruch ankommen würden, also bevor die Menschen aus ihrem Festtagsrausch erwachten und auf die Straßen getaumelt kamen. Ich durfte mich noch nicht in der Öffentlichkeit zeigen – es war der neunte und letzte Tag meiner Trauerzeit –, doch früh am nächsten Morgen sollten wir in die Provinz Daikiko aufbrechen. Hätte ich das offizielle Ende meiner Trauerzeit abgewartet, hätte ich meinen Plan vor der Abreise nicht mehr in die Tat umsetzen können. Und irgendetwas sagte mir, dass ich keine Zeit verlieren durfte.
»Danke, dass Ihr mich Chart besuchen lasst, Mylord«, sagte Rilla einmal mehr. Sie senkte den Kopf, um durch einen Spalt im Vorhang nach draußen zu schauen. Ein Lächeln erhellte ihre angespannte Miene. »Ich glaube, wir sind fast da.«
Ich schob die Vorhänge auseinander und sah die steinernen Löwen, die den Vordereingang zum Anwesen meines Meisters – zu meinem Anwesen – bewachten. Ich hatte unsere Ankunft ankündigen lassen, und die sechs Hausangestellten kamen unter Irsas Führung aus dem Seitentor gelaufen. Alle hatten zum Zeichen der Trauer ein kleines Stück roten Stoff an den linken Ärmel ihres Arbeitsgewands geheftet. Als die Sänfte anhielt, hatten sie sich längs des Weges aufgereiht und warteten demütig darauf, ihren neuen Meister zu begrüßen. Chart war natürlich nicht zugegen. Er wartete zweifellos in der Küche auf uns.
Ich hörte, wie Ryko den Wächtern genaue Instruktionen gab, wo sie rings um das Anwesen Stellung beziehen sollten. Dann öffnete Rilla die Vorhänge, stieg aus der Sänfte und half anschließend mir heraus. Sie achtete darauf, sich so würdevoll wie sonst zu bewegen, doch ihr Händedruck verriet ihre Ungeduld.
Kaum hatten meine Füße den Boden berührt, fiel das gesamte Personal auf die Knie und verbeugte sich. Zu meiner Überraschung durchzuckte mich dabei eine Welle der Erregung. Ich räusperte mich, ging an den Hausangestellten vorbei und bemerkte, wie nervös Irsa herumzappelte und wie schmutzig der dicke Hals von Gärtner Lon war. Dann öffnete Rilla die zweiflügelige Eingangstür und verneigte sich. Zum ersten Mal in meinem Leben überquerte ich diese Schwelle und betrat mein eigenes
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