Drachentochter
gemacht. Um Geld mit mir zu verdienen. Und um Macht zu gewinnen. Sein Verrat durchfuhr mich wie der Hammer, der meine Knochen zerschlagen hatte. Er hatte mir meinen Körper geraubt. Meine Ganzheit. Ich wollte aufstehen, doch all meine Energie strömte an einen anderen Ort. Dorthin, wo der Zorn saß. Meine Hüfte pochte. Ich fiel auf alle viere und kroch von Chart und dem Schmerz weg, den er mir bereitet hatte.
»Ich dachte … du hast es … gewusst.«
»Gewusst?«, schrie ich.
Zwar nahm ich Charts Schrecken wahr, doch im Vergleich zu meiner Wut war er sehr klein. Ich stieß mit dem Kopf an ein Regal und zog mich mühsam auf die Beine. Vor mir lagen seine Schriftrollen. Seine kostbaren Schriftrollen. Alle liebevoll eingeräumt.
Ich zog eine Schachtel aus ihrer Nische und warf sie an die Wand. Das Geräusch des splitternden Holzes ging mir durch Mark und Bein. Die zweite Schachtel knallte gegen den Schreibtisch und fegte Federn und Tusche herunter. Dann zog ich Schachtel für Schachtel aus den Regalen und schleuderte sie immer schneller an die Wände, denn der Lärm fachte meine Wut weiter an. Chart duckte sich wimmernd auf seinem Stuhl. Ich hörte die Tür aufgehen.
»Lord Eon!«
Mit zum Wurf erhobenem Arm drehte ich mich um.
Rilla stand mit einem Tablett voller Weinbecher auf der Schwelle. Ihre Augen waren schreckgeweitet. »Was macht Ihr da?«
Sah sie das denn nicht? Ich war dabei, ihn zu verletzen und zu zerstören.
Aber er war ja schon tot.
Ich ließ die Schachtel in meiner Hand los. Sie fiel zu Boden und ging auf. Das Pergament sprang heraus und rollte über den Boden. Durch einen Tränenschleier sah ich Rilla auf mich zukommen. Und zum ersten Mal seit dem Tod meines Meisters mündeten all meine Trauer und all mein Zorn in einem gequälten Schluchzen.
16
Ich kauerte über der kleinen Öllampe neben dem Bett, grub Zeigefinger und Daumen in den Lederbeutel und holte eine großzügige Prise Sonnenpulver heraus. Die Geräusche meiner Palastbediensteten, die die Reise in die Provinz Daikiko vorbereiteten, drangen durch die frühmorgendliche Stille: das Klappern von Pferdehufen auf Pflaster, das Knarren von Karrenrädern und die Stimme von Ryko, der seinen Männern befahl, die Gepäckgurte zu überprüfen. Wir würden bald abfahren.
Ich schüttete das Pulver in den Tee der Geistmacherin, den Rilla mir zum Frühstück gebracht hatte. Es trieb kurz auf der Oberfläche, sank dann ab und löste sich in der trüben Flüssigkeit auf. Ich verschnürte den Beutel wieder und schob ihn zusammen mit dem kostbaren Rubinkompass in die Tasche meines Reisegewands.
Das Sonnenpulver war meine letzte Rettung. Da ich kaum hoffen konnte, das Buch bis zu meiner Prüfung entziffert zu haben, war es der einzige Weg, der mir einfiel, um rasch Verbindung mit dem Spiegeldrachen aufzunehmen. Ryko hatte gesagt, das Pulver entzünde in den Schattenmännern die Kraft der Sonne und stelle ihre Männlichkeit und ihren Kampfgeist wieder her; gewiss würde es auch in mir die Sonnenenergie stärken.
Ich betrachtete den dampfenden Tee. Natürlich war es nicht sicher, dass er die gewünschte Wirkung haben würde. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das Pulver mich in einen tobenden Wahnsinnigen wie Lord Ido verwandelte, war nicht gerade gering. Oder ich rutschte in finstere Verzweiflung und bekam furchtbares Kopfweh wie Dillon. Vielleicht hob der Tee der Geistmacherin die Wirkung auch einfach auf. Doch es gab noch eine andere Möglichkeit, die mir wie ein kalter Stein im Magen lag: der Tod durch Vergiftung.
Ich nahm die Schale und atmete den bitteren Dampf ein. Ich dachte an das schmerzverzerrte Gesicht meines sterbenden Meisters. Er war einen furchtbaren Tod gestorben.
Am Vortag hatte ich mich in Rillas Armen ausgeweint, doch ich konnte meinem Meister den Verrat nicht verzeihen. Noch nicht. Sogar nachdem Rilla mein Selbstmitleid mit einer ihrer harten Wahrheiten erschüttert hatte – dass mein lahmes Bein mir tatsächlich half, mein wahres Geschlecht zu verbergen –, konnte ich keine Vergebung empfinden. Eines Tages würde mir das vielleicht gelingen, doch vorerst war die Kraft des Zorns weit besser als die Trägheit des Kummers.
Ich sah in den Becher. Der Tee war fast schwarz geworden und spiegelte die dunklen Flächen meines Gesichts. Eine Dosis würde mich sicher nicht töten – so wenig, wie sie Dillon oder Ryko umgebracht hatte. Ich verneigte mich vor dem Altar in der Zimmerecke und hob die Schale an die Lippen. Mögen
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