Drachentochter
mein Leben auf dem Spiel.
Ich tastete nach der Haarnadel und zog daran. Sie hatte sich in einem Zopf verhakt. Es war nur ein kleiner Schmerz, doch ich schrie auf.
»Wartet, ich helfe Euch«, sagte Lady Dela.
Sie trat von hinten heran und ich spürte ihre Finger im Haar. Das erinnerte mich an eine andere, längst vergangene Berührung – daran, wie meine Mutter mir die verfilzten Haare gekämmt hatte.
»Warum tragt Ihr Frauenkleider? Frauen sind machtlos und Ihr leidet unter Eurer Wahl«, sagte ich. »Würdet Ihr Männersachen tragen, würde man Euch in Ruhe lassen.«
Lady Dela zog mir den Schmuck aus dem Haar und trat einen Schritt zurück. Ich hörte die Nadel auf den Tisch klimpern.
»Als ich sieben Jahre alt war, erwischte meine Schwester mich dabei, wie ich ihren Rock anprobierte«, sagte Lady Dela leise. »Doch da wusste ich bereits, dass ich anders war als die übrigen Jungen unseres Stammes. Nichts Jungenhaftes ist mir je selbstverständlich gewesen. Ich verabscheute das Jagen und Angeln und fand sogar Ballspiele furchtbar. Ich musste mich dazu erst überwinden, und zwar ständig.«
Ich drehte mich um. Sie hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt.
»Dann fand ich eines Tages den perlenbesetzten Rock, den meine Schwester in monatelanger Arbeit angefertigt und in unserem Familienzelt versteckt hatte«, fuhr sie fort. »Als ich ihn anzog, fühlte ich mich ganz. Ich weiß noch, dass ich damals dachte, dieser Rock sei genau das richtige Kleidungsstück, um meinem Lieblingsspiel nachzugehen, bei dem ich in einem Schlammloch so tat, als würde ich das Brot kneten, das unsere Mutter zum Fest der Wintersonnenwende buk.« Sie lächelte wehmütig. »Wie Ihr Euch vorstellen könnt, passen herrlich mit Perlen besetzte Röcke und Schlamm nicht besonders gut zusammen. Meine Schwester entdeckte mich und schleppte mich zu unserer Mutter, damit sie mich verprügelte. Natürlich ging die berechtigte Empörung meiner Schwester in der Aufregung unter, die meine Mutter und die anderen Frauen ergriff, als sie mich in einem Rock sahen.«
»Was haben sie unternommen?«
»Statt mich zu schlagen, hat meine Mutter mich neben sich gesetzt und mir gezeigt, wie man Reis mahlt. Sie hatte mich die ganze Zeit über für eine Zwillingsseele gehalten und nur auf den Moment gewartet, da ich zu mir selbst fände. Meine Mutter war eine kluge Frau. Doch als Contraire habe ich erst viel später zu leben begonnen. Erst als ich mir meiner Neigungen sicher war. Es ist eine ehrenvolle Stellung bei den Leuten meines Stammes.« Sie lachte kurz und bitter auf. »Hier ist sie weniger ehrenvoll.«
Sie trat vor den Spiegel und betrachtete sich. »Ich trage keine Männersachen, weil ich hier …« – sie strich sich über die Stirn – »… und hier …« – sie legte die Hand aufs Herz – »… eine Frau bin. Ihr täuscht Euch, wenn Ihr sagt, Frauen seien machtlos. Wenn ich an meine Mutter und ihre Stammesschwestern und sogar an die im Harem verborgenen Frauen denke, dann weiß ich, dass es auf Erden viele Formen von Macht gibt.« Sie wandte sich zu mir um. »Meine Macht besteht darin, dass ich mich als diejenige angenommen habe, die ich in Wahrheit bin. Vielleicht vermögen andere diese Wahrheit nicht zu akzeptieren, aber ich kann nicht anders leben. Stellt Euch vor, Ihr müsstet jede Minute Eures Daseins eine Lüge leben! Ich glaube, das könnte ich nicht.«
Ich drehte die Armreife an meinen Handgelenken und wich Lady Delas ruhigem Blick aus. Ich hätte es ihr bis in alle furchtbaren Einzelheiten beschreiben können, wie es sich anfühlte, eine Lüge zu leben, doch ich vermochte in der Weiblichkeit keine Kraft zu sehen. Nur Leiden.
»Warum …«, ich hielt inne und überlegte, wie ich mich ausdrücken sollte. Zu welchen Worten würde ein Mondschatten greifen? »Warum entledigt Ihr Euch nicht Eurer männlichen Körperteile?«
Sie sah weg. »Ich brauche mich nicht operieren zu lassen, um zu wissen, dass ich eine Frau bin. Und der Kaiser weiß zu schätzen, dass ich Sonne und Mond zugleich bin. Ließe ich mich operieren, würde ich gerade das verlieren, woran ihm besonders liegt …« Sie zögerte und sah mir dann in die Augen. »Und ehrlich gesagt habe ich auch Angst vor dem Schmerz. Ich habe Angst zu sterben.«
Ich nickte. Ich hatte gehört, dass drei von zehn Eunuchen nach der Operation unter entsetzlichen Qualen starben, wobei einige länger als eine Woche leiden mussten, ehe die Unfähigkeit, Wasser zu lassen, oder das immer
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