Drachentränen
hatten, konnte er dunkelgraue geometrische Formen in dem bedrohlichen Schwarz erkennen. Plötzlich wurde ihm klar, dass das kein Lagerraum, sondern ein Treppenhaus war.
Er fluchte erneut leise vor sich hin.
Connie flüsterte. »Was?«
»Treppen.«
Er überschritt die Schwelle. Dabei ließen er und Connie alle Sicherheitsregeln außer Acht, weil sie keine andere Wahl hatten. Treppen waren immer enge Fallen, in denen man nicht so leicht einer Kugel ausweichen konnte, und dunkle Treppen waren noch viel schlimmer. Oben war es so düster, dass Harry nicht erkennen konnte, ob der Kerl dort stand, aber er stellte sich vor, dass er mit der Hintergrundbeleuchtung aus der Küche ein perfektes Ziel abgeben musste. Er hätte lieber die Tür zum Treppenhaus blockiert und einen anderen Weg zum ersten Stock gesucht, doch bis dahin wäre der Kerl entweder längst weg gewesen oder hätte sich so gut verbarrikadiert, dass es sicher noch einige weitere Polizisten das Leben kosten würde, ihn rauszuholen.
Nachdem er sich einmal dazu durchgerungen hatte, nahm er die Stufen so schnell wie möglich. Das einzige, was ihn aufhielt, war die Notwendigkeit, sich dicht an der Wand zu halten, wo die Dielen am stabilsten waren und wahrscheinlich am wenigsten unter den Füßen nachgeben oder quietschen würden. Er erreichte einen schmalen Treppenabsatz und bewegte sich immer noch blind mit dem Rücken zur Wand.
Er linste angestrengt in die absolute Dunkelheit und fragte sich, wie es möglich sein konnte, dass es im ersten Stock genauso dunkel war wie im Parterre.
Von oben kam ein leises Lachen.
Harry erstarrte auf dem Treppenabsatz. Er war überzeugt, dass in seinem Rücken kein Licht mehr war. Er drückte sich noch enger an die Wand.
Connie stieß mit ihm zusammen und erstarrte ebenfalls.
Harry wartete darauf, dass das merkwürdige Lachen noch einmal ertönte. Er hoffte, dadurch einen Anhaltspunkt zu bekommen, der präzise genug wäre, um einen Schuss zu riskieren und damit seinen eigenen Standort zu verraten.
Nichts.
Er hielt die Luft an.
Dann schlug etwas auf. Klapperte. Schlug wieder auf. Klapperte. Schlug wieder auf.
Er erkannte, dass irgendetwas die Treppe herunterrollte und hüpfend auf sie zukam. Was war das? Er hatte keine Ahnung. Seine Fantasie ließ ihn im Stich.
Bum. Klapper. Bum.
Ganz instinktiv wusste er, was immer da die Treppe herunterkam, es war nichts Gutes. Deshalb hatte der Kerl gelacht. Nach dem Geräusch zu urteilen, das es machte, musste es klein sein, aber trotz der geringen Größe war es tödlich. Er war wütend über sich selbst, weil er unfähig war zu denken, sich dieses Ding vorzustellen. Er kam sich dumm und nutzlos vor. Ein übel riechender Schweiß überzog plötzlich seinen ganzen Körper.
Das Objekt schlug auf dem Treppenabsatz auf und blieb an seinem linken Fuß liegen. Es stieß gegen seinen Schuh. Er sprang zurück, ging aber sofort in die Hocke, tastete blind auf dem Fußboden herum und fand das verdammte Ding. Es war größer als ein Ei, aber in etwa eiförmig. Es hatte die verschlungene geometrische Oberfläche eines Tannenzapfens. War aber schwerer als ein Tannenzapfen. Am oberen Ende befand sich ein Hebel.
»Runter mit dir!« Er stand auf und warf die Handgranate in den oberen Korridor zurück, bevor er seinem eigenen Rat folgte und sich so flach wie möglich auf den Treppenabsatz warf.
Er hörte die Granate oben gegen etwas krachen.
Hoffentlich hatte er das verdammte Ding mit seinem Wurf bis ans Ende des Korridors im ersten Stock geschickt. Aber vielleicht war es auch nur gegen eine Wand im Treppenhaus geprallt und kam bereits in hohem Bogen wieder herunter, während auf dem Zeitzünder die letzten ein, zwei Sekunden vor der Detonation tickten. Oder vielleicht war es nur am Anfang des oberen Korridors gelandet, und der Mistkerl hatte es zu ihm zurückgetreten.
Die Explosion war laut, hell und verheerend. In seinen Ohren dröhnte es schmerzhaft. Jeder Knochen schien zu vibrieren, als die letzte Druckwelle durch ihn hindurchging, und sein Herzschlag beschleunigte sich noch mehr, obwohl sein Herz schon vorher gerast war. Brocken von Holz, Putz und anderem Schutt regneten auf ihn herab, und das Treppenhaus war von dem beißenden Gestank verbrannten Pulvers erfüllt, wie die Nacht des 4. Juli nach dem großen Feuerwerk.
Er hatte ein lebhaftes Bild vor Augen, was passiert wäre, wenn er zwei Sekunden langsamer gewesen wäre, wie sich seine Hand in einem Blutschauer auflöste, als er die
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