Drachentränen
viele von ihnen dem Mann zu gleichen schienen, den er erschossen hatte. Ihre Augen leuchteten mit einem fieberhaften Glanz und ihre netten, alltäglichen Gesichter konnten kaum ihre seltsamen Begierden verbergen.
Connie kam durch die Schwingtür aus der Küche, stellte einen umgeworfenen Stuhl wieder auf und setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie hatte ein kleines Notizbuch in der Hand, aus dem sie vorlas. »Sein Name war James Ordegard. Einunddreißig. Unverheiratet. Wohnte in Laguna. Ingenieur. Keine Vorstrafen. Noch nicht mal ein Verkehrsdelikt.«
»Was hat er mit diesem Lokal zu tun? Arbeitet seine Exfrau oder Freundin hier?«
»Nein. Bisher haben wir keine Verbindung gefunden. Niemand von denen, die hier arbeiten, erinnert sich, ihn jemals gesehen zu haben.«
»Hatte er einen Abschiedsbrief dabei?«
»Nee. Sieht nach ‘ner Art Amoklauf aus.«
»Hat man schon mit jemandem an seinem Arbeitsplatz gesprochen?«
Sie nickte. »Die sind baff. Er war ein guter Arbeiter, zufrieden…«
»Der altbekannte vorbildliche Bürger.«
»So heißt es.«
Der Fotograf machte noch ein paar Aufnahmen von der Leiche, die in ihrer Nähe lag - eine Frau Mitte Dreißig. Das Blitzlicht war störend hell, und Harry stellte fest, dass es sich jenseits der Scheiben bewölkt hatte, seit er und Connie zum Mittagessen gekommen waren.
»Hatte er Freunde, Familie?« fragte Harry.
»Wir haben einige Namen, aber wir haben noch nicht mit allen gesprochen. Mit den Nachbarn auch noch nicht.« Sie klappte das Notizbuch zu. »Wie geht’s dir?«
»Ging schon mal besser.«
»Was macht dein Bauch?«
»Nicht so schlimm, fast normal. Das wird morgen viel schlimmer. Wo zum Teufel hatte der die Handgranaten her?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das werden wir rauskriegen.«
Die dritte Handgranate, die durch die Falltür zum Speicher in den darunter liegenden Raum geworfen worden war, hatte einen Beamten aus Laguna Beach ganz unvorbereitet erwischt. Er lag jetzt im Hoag Hospital und klammerte sich verzweifelt an sein Leben.
»Handgranaten.« Harry konnte es immer noch nicht fassen. »Hast du so was schon mal gehört?«
Er bedauerte sogleich, die Frage „gestellt zu haben. Er wusste, das wäre für sie ein Anlass, mit ihrem Lieblingsthema anzufangen, dem Tanz ins neue Jahrtausend oder der anhaltenden Krise des neuen finsteren Mittelalters.
Connie runzelte die Stirn und sagte: »Ob ich so was schon mal gehört habe? So was vielleicht nicht, aber was genauso Schlimmes, oder noch schlimmer, viel schlimmer. Letztes Jahr hat eine Frau in Nashville ihren behinderten Freund umgebracht, indem sie seinen Rollstuhl in Brand gesetzt hat.«
Harry seufzte.
Sie sagte: »In Boston haben acht Teenager eine Frau vergewaltigt und getötet. Weißt du, was ihre Entschuldigung war? Sie hätten sich gelangweilt. Gelangweilt. Die Stadt war schuld, verstehst du, weil sie den Kids so wenig kostenlose Freizeitmöglichkeiten bot.«
Er sah zu den Leuten rüber, die sich draußen an der Absperrung des Tatorts drängelten, dann wandte er den Blick rasch wieder ab.
Er sagte: »Warum sammelst du eigentlich diese Stories?«
»Sieh mal, Harry, wir leben im Zeitalter des Chaos. Man muss mit der Zeit gehen.«
»Dann bin ich vielleicht lieber ein komischer alter Kauz.«
»Um in den Neunzigern ein guter Cop zu sein, muss man ein Mensch der Neunziger sein. Man muss mit den Rhythmen der Zerstörung im Einklang sein. Die Zivilisation fliegt uns um die Ohren. Jeder will Freiheit, aber keiner will Verantwortung, deshalb hält das Ganze nicht. Du musst wissen, wann du gegen eine Regel verstoßen darfst, um das System zu retten - und wie man auf jeder Welle des Wahnsinns reitet, die gerade daherkommt.«
Er starrte sie nur an, denn das war ganz einfach. Viel einfacher, als über das nachzudenken, was sie gesagt hatte, weil er Angst davor hatte, dass sie recht haben könnte. Er konnte nicht darüber nachdenken. Wollte nicht. Jedenfalls im Augenblick nicht. Und der Anblick ihres hübschen Gesichts war eine willkommene Ablenkung.
Obwohl sie nicht dem derzeitigen amerikanischen Maßstab absoluter Schönheit entsprach, der von den Tussis in den Bierreklamen im Fernsehen gesetzt wurde, und auch wenn sie nicht den verschwitzten exotischen Appeal weiblicher Rockstars mit Kunststoffdekollete und drei Kilo Bühnen-Make-up hatte, der unerklärlicherweise eine ganze Generation junger Männer erregte, war Connie Gulliver attraktiv. Zumindest war Harry dieser Meinung. Nicht dass er
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