Drachentränen
den Boden und machte ihnen mit einer weiteren unerwarteten Bewegung einen Strich durch die Rechnung. Statt direkt durch die Tür in den Flur zu verschwinden, flitzte er in das angrenzende Badezimmer, das auch zum nächsten Zimmer gehörte, und stahl sich von dort in den Flur.
Mit Danny an der Hand führte Janet diesmal die Verfolgungsjagd an, nicht nur weil sie sich für das, was passiert war, verantwortlich fühlte und befürchtete, dass ihre Essensprivilegien im Pacific View für immer gestrichen zu werden drohten, sondern weil sie auch darauf erpicht war, das düstere, stickige Zimmer und seine bleiche Bewohnerin zu verlassen. Diesmal führte die Jagd ins Hauptfoyer und von dort in den Besucherraum.
Janet verfluchte sich dafür, dass sie den Köter jemals zu sich genommen hatte. Das schlimmste war noch nicht einmal die Demütigung, die er ihnen mit seinem Streich bereitet hatte, sondern all die Aufmerksamkeit, die er erregte. Sie fürchtete Aufmerksamkeit. Sich ducken und ruhig verhalten, in den Winkeln und Schatten des Lebens bleiben, nur so war es möglich, das Maß an schmählicher Behandlung, das man hinnehmen musste, gering zu halten. Außerdem wollte sie für andere zumindest noch so lange praktisch unsichtbar bleiben, bis ihr toter Mann weitere ein bis zwei Jahre unter dem Sand von Arizona geruht hatte.
Woofer war zu schnell für sie, auch wenn er seine Schnauze auf dem Boden hielt und den ganzen Weg abschnupperte.
Die Frau, die an diesem Abend am Empfang saß, war eine junge Hispano-Amerikanerin in einer weißen Uniform. Ihre Haare hatte sie mit einem roten Band zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war von ihrem Pult aufgestanden, um die Ursache des herannahenden Tumults zu erkunden, hatte die Situation erfasst und rasch gehandelt. Als Woofer in das Foyer gesaust kam, trat sie zur Eingangstür, öffnete die Tür und ließ ihn an sich vorbei auf die Straße schießen.
Draußen blieb Janet atemlos am Fuß der vorderen Treppe stehen. Das Pflegeheim lag östlich vom Küsten-Highway an einer leicht ansteigenden Straße, die von Lorbeer- und Eisenholzbäumen gesäumt war. Die Quecksilberdampf-Straßenlaternen verbreiteten ein unbestimmtes, blaues Licht. Als eine plötzliche Brise die Zweige erschütterte, wimmelte es auf dem Asphalt nur so von den zitternden Schatten der Blätter.
Woofer war etwa fünfzehn Meter von ihnen entfernt, in dem blauen Licht sah er gefleckt aus, und er schnupperte immer weiter auf dem Bürgersteig herum, an Sträuchern, Baumstämmen und an der Bordsteinkante. Doch am intensivsten prüfte er die Nachtluft, als ob er nach einem flüchtigen Geruch suchte. Von den Eisenholzbäumen hatte der Sturm jede Menge stachlige rote Blüten abgerissen, die auf dem Asphalt verstreut lagen wie Kolonien mutierter Seeanemonen, die von einer apokalyptischen Flut angespült worden waren. Als der Hund daran schnupperte, musste er niesen. Er bewegte sich nur zögernd und unsicher weiter, aber stetig nach Süden.
»Woofer!« rief Danny.
Der Köter drehte sich um und sah sie an.
»Komm zurück!« flehte Danny.
Woofer zögerte. Dann zuckte er mit dem Kopf, schnappte in die Luft und jagte weiter dem Phantom nach, das er verfolgte.
Mühsam die Tränen zurückhaltend, sagte Danny: »Ich dachte, er mag mich.«
Die Worte des Jungen ließen Janet die unausgesprochenen Verwünschungen bedauern, mit denen sie den Hund während der Verfolgungsjagd überhäuft hatte. Sie rief ebenfalls nach ihm.
»Er kommt bestimmt zurück«, versicherte sie Danny.
»Tut er nicht.«
»Vielleicht nicht sofort, aber später, vielleicht morgen oder übermorgen, dann kommt er nach Hause.«
Die Stimme des Jungen zitterte von dem Verlust: »Wie kann er nach Hause kommen, wenn es kein Zuhause gibt, wo er uns finden kann?«
»Doch, das Auto«, sagte sie wenig überzeugend.
Ihr war stärker denn je bewusst, dass ein verrosteter, alter Dodge nur ein erbärmlich unzureichendes Zuhause war. Dass sie nicht in der Lage war, ihrem Sohn etwas Besseres zu bieten, machte ihr Herz plötzlich so schwer, dass es weh tat. Sie wurde so heftig von Angst, Wut, Frustration und Verzweiflung gepackt, dass ihr übel wurde.
»Hunde haben schärfere Sinne als wir«, sagte sie. »Er wird uns finden. Er findet uns ganz bestimmt.«
Die schwarzen Schatten der Bäume regten sich auf dem Asphalt, eine Vorahnung der verwelkten Blätter im kommenden Herbst.
Der Hund erreichte das Ende des Blocks und verschwand um die Ecke, so dass sie ihn nicht
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