Drachenwacht: Roman (German Edition)
Karten herauszunehmen und die Wege zu studieren.
Temeraire holte tief Luft, beobachtete ihn und fasste sich schließlich ein Herz: »Laurence … Laurence, ich habe nachgedacht. Vielleicht solltest du meine Krallenscheiden verkaufen. Ich meine natürlich nicht jetzt sofort«, fügte er eilig hinzu, »aber wenn der Krieg vorbei ist …«
»Warum?«, erkundigte sich Laurence, aber er war eindeutig viel zu gedankenverloren, als es ein solches Angebot verdiente, fand Temeraire. »Hast du dich an ihnen sattgesehen?«
»Nein, natürlich nicht, wer könnte sich denn an so etwas sattsehen ?«, antwortete Temeraire und machte eine Pause. Er war sich nicht sicher, wie er diesen Vorschlag erklären sollte, ohne preiszugeben, dass er von Laurence’ Verlust wusste, den dieser versucht hatte, geheim zu halten, sicherlich, weil er ihn zu sehr schmerzte. »Ich habe ja nur gedacht«, wagte er sich schließlich vor, »dass du vielleicht ein bisschen mehr Kapital haben möchtest, weil du mir ja schließlich so viel abgegeben hast.«
»Ich brauche kein Kapital«, entgegnete Laurence, »und du solltest die Scheiden lieber behalten, falls du später mal etwas brauchst. Aber ich danke dir für das Angebot, das war sehr nett von dir«, fügte er hinzu. Dies hätte eine enorme Erleichterung sein können, aber Temeraire hatte sofort das Gefühl, dass es ihn nur noch unglücklicher machte, denn er hatte nun alles in die Waagschale geworfen, und doch hatte es zu nichts geführt. Laurence schien nicht mal ein bisschen ergriffen zu sein bei der Vorstellung, einen solchen phantastischen Schatz sein Eigen zu nennen, und sein Dank war ziemlich förmlich ausgefallen.
Temeraire legte den Kopf auf die Vorderbeine und beobachtete Laurence noch ein bisschen. Dieser hatte eine Laterne bei sich, und
in deren Licht sah er irgendwie seltsam aus. Dann begriff Temeraire, dass er nicht sorgfältig genug rasiert war und etwas getrocknetes Blut an seiner Wange klebte, das er nicht weggewischt hatte. Sein Haar war nachlässig zurückgebunden und eindeutig zu lang. Aber das schien ihm nichts auszumachen; seine gesamte Aufmerksamkeit war auf die Karte und die Zahlen gerichtet, auf die er hinunterstarrte.
»Kann ich dir denn nicht helfen, Laurence?«, fragte Temeraire schließlich recht deprimiert, weil ihm sonst nichts mehr einfiel.
Laurence hielt über den Papieren inne, dann breitete er einen Bogen aus und ließ den Schein der Laterne darauffallen. »Ist das denn groß genug, dass du was lesen kannst? Es sind die Steuererhebungen des letzten Jahres. Ich schätze, dass die Franzosen zuerst die wohlhabenderen Anwesen und Dörfer plündern werden, also sollten wir da nach ihnen suchen.«
»Ja, ich kann es lesen«, antwortete Temeraire. Wenn er die Augen zusammenkniff, ging es gerade so. »Soll ich dir die reichsten Ortschaften in der richtigen Reihenfolge nennen?«
Als sie nach und nach tiefer in den Süden vorstießen, wurden die französischen Truppen, die auf Proviantsuche waren, größer und verzweifelter. Es waren nicht mehr länger kleine Grüppchen, die nur für sich selbst und ihre Tiere marodierten, sondern sie waren auch für die dringend notwendige Versorgung derjenigen Drachen zuständig, die inzwischen in kleineren Außenposten und Lagern überall im Herzen Englands untergebracht waren. So sollte die Last der Essensbeschaffung auf viele Schultern verteilt werden. Wenn nicht mehr täglich Vieh eintraf, würden die Drachen bald hungrig werden, und eine große Zahl von ihnen müsste dann weiter nach Süden verlegt werden, vielleicht sogar nach Frankreich.
Das Abschneiden dieser Versorgungslinien begann bereits Erfolge zu zeitigen. Ohne die kleineren Gruppen, die in regelmäßigen Abständen Proviant herbeischafften, mussten die Soldaten mehr Anstrengungen
unternehmen, sich selbst und die Drachen satt zu bekommen, und das machte sie noch rücksichtsloser. Dörfer, Höfe und Anwesen wurden nun bis aufs Letzte geschröpft und bei der Suche nach versteckten Vorräten oft bis auf den Grund zerstört. Manchmal jedoch war auch der pure Zerstörungswille offenkundig: Ein grausamer Drang der Soldaten, der daher rührte, dass ihnen zu viel Freiheit gelassen wurde zu zerstören, was sie vorfanden. Wenn Dorfbewohner versuchten, Heim und Gut zu schützen, wurden sie häufig umgebracht oder misshandelt; oder sie blieben im besten Fall vor ihrem brennenden Haus zurück, um dort zu verhungern.
Diese Brutalität erweckte schon bald überall im Land offenen
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