Drachenwacht: Roman (German Edition)
sich nicht einmal mehr eindeutige Seiten ausmachen ließen. Laurence sah zwei Männer, die zuvor am gleichen Tisch gesessen hatten und nun in einer Ecke miteinander rangen. Schließlich wurde Laurence von einigen Männern beiseitegedrängt. Einer von ihnen war ein Kapitän, den er von Dover her kannte, aber ihm fiel nicht sofort sein Name ein. Frisches, schwarzes Drachenblut besudelte seine Kleidung. Es handelte sich um Geoffrey Windle, wie Laurence dann doch noch durch den Kopf schoss, während sie miteinander kämpften. In diesem Augenblick traf ihn ein Schlag Windles mit aller Kraft am Kiefer.
Der Aufprall brachte ihn aus dem Gleichgewicht; seine Zähne schlugen aufeinander, und der plötzliche Schmerz einer aufgebissenen Wange fuhr Laurence durch den Schädel. Er versuchte zunächst, eine Zeltstange zu fassen zu bekommen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, griff dann aber nach einem Stuhl, den er zwischen sich und Windle riss, eben als der erneut einen Satz auf ihn zu machte. Der Mann stolperte über die Barriere und prallte gegen die Stange. Da er bald zwanzig Kilo mehr als Laurence wog, rutschte die Zeltstütze unter seinem Gewicht weg, und das Segeltuchdach sackte jäh in sich zusammen.
Zwei weitere Angreifer näherten sich Laurence. Ihre Gesichter waren vom Zorn hässlich verzerrt, als sie gemeinsam Laurence’ Arme packten und ihn zum nächststehenden Tisch zerrten. Sie waren betrunken genug, um streitlustig zu sein, jedoch nicht genug, als dass sie unbeholfen geworden wären. Laurence trug noch immer seine Schnallenschuhe und seine Strümpfe voller Laufmaschen. Weder verschafften ihm Erstere einen guten Stand auf dem Boden, noch waren sie schwer genug, als dass er damit wirksam hätte treten können. Die beiden drückten ihn auf den Tisch nieder, und einer zog ein stumpfes Messer von seinem Essbesteck heraus, auf dem noch die fettigen Spuren vom Abendessen seines Besitzers zu sehen waren.
Laurence stützte sich mit dem Absatz auf die Tischoberfläche und bäumte sich auf. Auf diese Weise gelang es ihm, einen Augenblick lang seine Schultern zu lösen und sich unter den kurzen, wütenden Stichen des Messers herauszuwinden, die so nur seinen Mantel zerfetzten.
Die Zeltstange ächzte und gab nun vollständig nach, sodass das gesamte Zeltdach in einer einzigen, aufgeregten Welle auf sie niederrauschte. Zwar hatte Laurence seine Arme den Angreifern entwinden können, doch nun war es noch schlimmer geworden, da er von der Plane eingehüllt war. Die Falten des Zeltes waren so schwer, dass es ihn Mühe kostete, sie so weit von seinem Gesicht zu heben, dass er atmen konnte. Er rollte sich vom Tisch hinunter, doch schon griffen erneut Hände nach seinem Arm und zogen an ihm. Blindlings schlug Laurence nach dem nächsten Gegner, und gemeinsam fielen sie zu Boden. Sie rollten über den schmutzigen Boden, bis es dem anderen Mann gelang, eine Ecke des Segeltuchs von ihren Köpfen zu ziehen, und sie wieder Luft schöpfen konnten. Es war Granby.
»Du lieber Gott«, stieß Granby hervor. Laurence drehte sich um und sah, wie sich das halbe Zelt über die tobende Masse senkte. Diejenigen, die nüchtern genug gewesen waren, um dem Kampf aus dem Weg zu gehen, retteten die Laternen auf dieser Seite des Zeltes, während die anderen die zusammengesackte Decke mit Wasser tränkten. Von unten her stieg Rauch auf.
»Sie täten verdammt klüger daran, das Feld zu räumen«, sagte Granby, als Laurence zu Hilfe eilen wollte. »Hier entlang.« Er zerrte ihn auf einen Pfad quer über den Lagerplatz, der schmal und so dunkel war, dass die beiden auf dem Weg zu den Drachenlichtungen ins Stolpern gerieten.
Schweigend liefen sie über den unebenen Boden. Laurence versuchte, seinen hektischen, angespannten Atem zu beruhigen, hatte jedoch keinen Erfolg. Er kam sich so unaussprechlich naiv vor. Er hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass es solche
Pläne gegenüber Temeraire geben könnte, bis er sie aus dem Mund des Betrunkenen gehört hatte. Aber wenn diese Männer bereit gewesen waren, ihn zu hängen, selbst im Wissen, dass ihnen das Temeraires Nützlichkeit rauben würde, was würden ebendiese Männer sonst noch alles tun, die immerhin bereit gewesen waren, Drachen in aller Welt krank zu machen und sie einem entsetzlichen Tod zu überantworten? Natürlich würden sie mit Freuden Temeraires Tod in Kauf nehmen, ehe dieser sich in den Dienst anderer stellen konnte, die sie bereit waren, als ihre Feinde anzusehen:
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