Drachenwächter - Die Prophezeiung
letzten Blick in das Grab, in das stetig der Sand rieselte, der vom sanften Wind über die Steppe getrieben wurde, dann machte er sich auf, mit langsamen Schritten der Kolonne nachzufolgen.
»Was reden die Leute über die Drachen?«, fragte Galen Cohm seine Tochter. »Gibt es etwas Neues?«
Mesala wrang das Tuch, mit dem sie ihren Vater wusch, über dem Topf neben dem Bett aus. »Das letzte Mal, dass jemand die Drachen gesehen hat, war in den Drei Dörfern. Danach sind sie in die Weite Steppe gezogen, und niemand weiß, wo sie nun herauskommen werden.« Sie strich mit dem feuchten Tuch über die nackte Brust des Mannes, fühlte die Wellen seiner Rippen unter ihren Händen. Mesala erinnerte sich, wie kräftig ihr Vater vor seiner Lähmung gewesen war – nichts war davon geblieben.
Seine Augen waren auf das Fenster gerichtet »Sie werden hierher kommen. Ich weiß es.«
»Du glaubst, die Drachen werden uns töten?«
»Nein.« Er schaute sie an.
Erst nach einigen Augenblicken bemerkte Mesala, dass ihr Vater sie ansah. »Was gibt es?«
»Ich bereue vieles von dem, was ich dich gelehrt habe«, sagte er langsam, und das Leid in seinem Blick bedrückte sie. »Du warst ein Kind, als Alema getötet wurde, und ich habe dir als Heranwachsende immer wieder erzählt, deine Schwester sei von den Drachen getötet worden und ein Mann namens Seld Esan habe sie ihnen geopfert.«
Mesala wünschte, sie könnte ihrem Vater widersprechen, doch das war nicht möglich. Bis zu Alemas Tod war ihr Vater immer ein ruhiger Mann gewesen, aber danach hatte er sich gewandelt. Nachdem Alema weggegangen war, hatte er kaum mehr mit Mesala gesprochen ... monate lang. Dann war die Nachricht von Alemas Tod nach Klüch gekommen, und der Vater war weinend durch die Zimmer ihrer Wohnung gestampft, wobei er immer wieder den Namen Seld Esan verflucht hatte. Er bleute seiner Tochter ein, sie solle sich vor den Leuten aus dem Nordostland in Acht nehmen, denn sie würden den Drachen Menschenopfer darbieten.
»Ich war verzweifelt, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen«, sagte Galen Cohm. Tränen rannen seine Wangen hinab. »Vergib mir.«
Mit dem Tuch wischte Mesala die Tränen weg. »Es gibt nichts, was ich dir vergeben müsste.«
»Inzwischen habe ich verstanden, dass Alema mit Seld fortging, weil sie ihn liebte. Ich habe ihm die Schuld an ihrem Tod gegeben, aber inzwischen weiß ich, dass er ihr nichts angetan hat. Er hat versucht, sie zu retten, aber diese Wahnsinnigen waren in der Überzahl ...«
Mesala befeuchtete erneut das Tuch und wusch die blassen, reglosen Beine ihres Vaters. »Hast du jemals mit ihm geredet?«
»Nein. Er hat es versucht, aber ich habe ihn abgewiesen. Wie ich es auch mit Alema getan habe. Ich wünschte, er würde noch einmal zu mir kommen.«
Telam Jerv ritt seit Tagen. Sein geschundener Körper wurde von dem Lif getragen, das schwer schnaufte und dessen Knöchel schon blutige Striemen zeigte. Während Telam durch die Weite Steppe ritt, bemerkte er kaum, wie sich Tag und Nacht abwechselten. Sich und seinem Tier gönnte er nur wenig Ruhe, er folgte den Resten der Drachenspur. Diese war vom Wind schon fast unkenntlich gemacht worden, doch in manchen Senken war sie wieder deutlich zu sehen – sie befand sich in Nähe der Wegmarkierungen.
Telam wusste nicht, wie viele Tage er schon in der Weiten Steppe unterwegs war, als er den dunklen Fleck vor sich wahrnahm. Zuerst dachte er, es sei ein Stein, der auf einem flachen Hang vor ihm lag, in der Nähe einer Wegmarke.
Als er näher kam, sah er, dass der Wind mit Fetzen spielte, die von dem Objekt herabhingen. War es ein totes Lif? Oder gar ein toter Mensch?
Ja – ein Mensch. Telam trieb sein müdes Lif an, doch es schien darauf nicht zu reagieren und trottete gleichmütig weiter. Als es bei dem Menschen ankam, hob sich Telam vom Rücken des Tieres und stieg herunter. Sofort knickte das Lif seine Knie ein und sank zu Boden, legte seinen lang gezogenen Kopf auf die Erde und blies Staubwolken auf.
Es schien ein Mann zu sein, der vor Telam auf dem Boden lag, auf der Seite und Telam den Rücken zugewendet. Der Wind bewegte die Strähnen des dunklen Haares und spielte mit der Felljacke des Mannes.
Wer hatte diesen Mann zum Sterben zurückgelassen? Warum hatte ihn niemand begraben? Er war in die gleiche Richtung gewandt wie Telam, also kam auch er vielleicht aus den Drei Dörfern oder aus Ovin? Vielleicht war er aus den Siedlungen geflohen und alleine gereist. Aber dann musste
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