Drachenwächter - Die Prophezeiung
er auf einem Lif geritten sein, doch davon war nichts zu sehen.
Und wie lange mochte er hier schon liegen? Wenn Telam nun um den Mann herumging, um in dessen Gesicht zu blicken – würde er dann ein eingefallenes Gesicht sehen? Der Wind blies über den Mann hinweg und zu Telam herüber, und er war froh, keinen Leichengeruch in der Luft wahrzunehmen.
Langsam ging er um den Mann herum. Schwere, schwarze Stiefel trug er, und auf der Hose und der Jacke befand sich eine Sandschicht.
Das Gesicht war von schwarzen Haaren bedeckt, und nur die drahtigen Barthaare am Kinn des Mannes waren zu sehen. Eine Windböe blies die Haare aus dem Gesicht.
Es war Seld Esan. Ein verklärtes Todeslächeln stand in seine Züge geschrieben.
Telam fiel auf die Knie. Seine linke Hand fuhr über Selds Oberarm, seine rechte strich über das Gesicht und wischte die Haare nach hinten. Ein Wimmern drang aus seiner Kehle, und Tränen schossen in seine Augen.
Jemand hatte den Vorsteher von Hequis getötet und in die Steppe geworfen. Es musste Quint gewesen sein, dachte Telam. Bei den Göttern, er würde Rache üben an dem Mann, der dies ...
Seld regte sich unter Telams Händen. Er zuckte, rollte auf den Rücken und hustete trocken; seine Gesichtszüge wurden nun von Schmerzen verzerrt.
»Du lebst«, flüsterte Telam. »Seld, du lebst!«
Die Augen des Mannes öffneten sich, und seine Pupillen rasten von einer Seite zur anderen; Seld versuchte etwas zu sagen, doch es war nur ein Keuchen, das aus seiner Kehle kam.
Telam fuhr in die Höhe, sprang über Seld hinweg zu dem Lif und kramte einen fast leeren Wasserbeutel hervor, eilte zu Seld zurück und träufelte etwas Wasser auf sein Gesicht und in seinen Mund. Seld trank, hustete. Für einen Augenblick richteten sich seine Pupillen auf Telam, starrten ihn an, dann schlossen sich die Augen, und Selds Körper entspannte sich.
Nein, er schlief nur. Telam sah, wie sich die Ader an Selds Hals pumpend bewegte, und er hörte, wie der Vorsteher atmete. Telam verstaute den Wasserbeutel wieder – nun hatte er nur noch einen kümmerlichen Rest, und noch immer waren es einige Tagesreisen bis zur südlichen Grenze der Weiten Steppe, wenn er die Kerben in den Wegmarken richtig deutete.
Er schleifte Selds schlafenden Körper zu seinem Lif und legte ihn bäuchlings darauf. Das Tier konnte niemals zwei Menschen tragen, also zog er an den Zügeln, damit das Lif sich erhob, dann lief er neben ihm her.
Ark packte kalte Wut, wenn er beobachtete, wie sehr Quint sich als Vorsteher aufspielte. Aufrecht auf einem Lif sitzend, führte er die Kolonne an. Wenn die Hequiser rasteten, zog er sich entweder auf seinen Wagen zurück, als müsste er wichtige Pläne schmieden, oder lief zwischen den Hequisern herum und sprach ihnen mit salbungsvollen Worten Mut zu.
Kaum jemand schien ihn in seinem neuen Amt ernst zu nehmen, doch niemand sprach es aus. Ark vernahm, dass die Leute über Quint tuschelten und sich wünschten, Seld wäre noch ihr Vorsteher. Doch dieses Amt hatte nun Quint inne, solange er lebte.
Nun folgten die Hequiser nicht mehr den Drachen, sondern blieben auf der alten Handelsroute nach Klüch. Dort wären sie am sichersten vor allem, was ihnen drohte, glaubte Quint Tamat. Der Weg von der Grenze der Weiten Steppe bis zur Küste war gut erschlossen und führte durch viele kleine Siedlungen in den Südländern, doch auch dieser Teil der Reise würde noch etwa fünfzehn Tage und Nächte dauern, bevor die Hequiser die letzte Hügelkette vor Derods größter Stadt erreichten.
Nahe der Steppe waren die Südländer von einem Nadelwald beherrscht, dessen dichtes Unterholz vielen kleinen Tieren Schutz bot. Die Landschaft war nur wenig hügelig, doch nach einigen Tagesreisen in Richtung Süden wandelte sich die Umgebung: Die Baumreihen wurden lichter, und vor dem Reisenden erhoben sich die Höhen des Mittel massivs. Es teilte das Südland von Derod in zwei Hälften. Verglichen mit den Koan-Bergen bestand das Mittelmassiv nur aus Hügeln, doch für die Deroder, die niemals die Nordländer bereist hatten und niemals staunend zu den schneebedeckten Höhen der Koan-Berge geblickt hatten, war das Mittelmassiv fast eine Bergkette.
Hinter dem Mittelmassiv flachte das Land zusehends ab, und in der weitläufigen Landschaft lebten Bauern in ihren riesigen Höfen. Weizen, Hafer und Mais gediehen prächtig im warmen Klima der Südländer, und regelmäßig sorgten Wolken für Regen. Während im Nordostland der Herbst schon
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