Drachenwege
Nacht.
»Was fehlt dir, Kindan? Ich merke doch, dass du traurig bist«, fragte Nuella, als sie sich unterwegs zu ihrem Elternhaus befanden. Kindan erzählte ihr, was ihm auf dem Herzen lag. »Aber es geht nicht anders, Kindan«, hielt sie ihm vernünftigerweise entgegen. »Die Leute von der Nachtschicht können nur an einem Fest teilnehmen, wenn es auf einen Ruhetag fällt. Du kannst nicht gleichzeitig im Pütt und auf einer Feier sein.«
»Ich weiß«, seufzte er. Er sah Kisk an, in deren gro-
ßen Augen grüne und blaue Schlieren wirbelten, die von der inneren Zufriedenheit des Wachwhers kündeten.
»Aber ich singe und musiziere nun mal für mein Leben gern.«
»Solange du im Stimmbruch bist, taugst du ohnehin nichts als Sänger«, stutzte sie ihn zurecht. Kindan quittierte diese Bemerkung mit einem mürrischen Brummen.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.
Um der peinlichen Stille ein Ende zu bereiten, wechselte Nuella das Thema. »Weißt du eigentlich, dass der neue Schacht ganz in der Nähe von Vaters Geheimgang liegt?«
»Was für einem Geheimgang?«, fragte Kindan verdutzt.
»Nun ja, es gibt einen versteckten Tunnel, den ich häufig benutze. Erinnerst du dich noch an den Tag, als Meister Zist bei uns eintraf? Ich führte ihn durch diesen Geheimgang von der Mine ins Camp, und deshalb war er noch vor dir wieder zurück, obwohl du viel früher losranntest.« Sie kicherte. »Du hättest dich hören sollen, als du Meister Zist begegnet bist. Mir schien, du warst ganz außer dir vor gerechter Empörung.«
Jählings blieb Kindan stehen und hielt das Mädchen am Ärmel fest. Ihm war ein Gedanke gekommen.
»Nuella«, begann er aufgeregt, »könntest du mir diesen geheimen Gang zeigen?«
* * *
Nuella zierte sich eine geraume Weile, doch schließlich gelang es Kindan, sie dazu zu überreden, ihn in jenen geheimnisvollen Tunnel mitzunehmen.
»Natürlich wirst du warten müssen, bis es dunkel ist«, betonte Nuella. »Dann treffen wir uns im zweiten Stockwerk unseres Hauses, und zwar auf dem Treppenabsatz.«
»Ich möchte Kisk mitbringen«, sagte Kindan.
»Warum nicht? Für sie könnte es ein gutes Training sein, den Gang zu erkunden. Im Gegensatz zu dir wird sie keine Schwierigkeiten haben, denn sie kann ja im Dunkeln sehen.«
Kindan zuckte die Achseln. »Wir ergänzen uns halt.
Deshalb arbeiten ja ein Wachwher und sein menschlicher Partner zusammen.«
»Das weiß ich«, erwiderte Nuella. »Dann treffen wir uns also heute Abend, nach meiner Unterrichtsstunde bei Meister Zist.«
»So spät?«
»Nun ja, du wirst ja wohl nicht von mir verlangen, dass ich meinen Unterricht versäume, oder?«, versetzte sie schnippisch.
»Natürlich nicht. Und du wirst auch ganz bestimmt da sein?«
»Was dachtest du denn? Ohne mich findest du den Gang nie«, hielt sie ihm entgegen und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen.
Kindan blies seufzend den Atem aus. »Na schön. Abgemacht. Bis heute Abend dann.« Er zog die Stirn kraus. »Warum treffen wir uns im zweiten Stockwerk und nicht vor der Küche?«, wunderte er sich.
»Weil sich der Eingang zum Tunnel im zweiten Stockwerk befindet«, klärte sie ihn auf. »Warte ab, du wirst noch staunen.«
* * *
Von Anfang an lief nichts so, wie Kindan es geplant hatte. Nuella führte Kisk an einer Leine, und er zockelte hinterdrein.
»Warum muss ich immer am Schluss gehen?«, beschwerte er sich, als sie die erste Biegung des Geheimgangs erreichten. Er stolperte und wäre um ein Haar gefallen.
»Deshalb!«, versetze Nuella ungerührt. »Weil du nichts sehen kannst und überall anstößt. Du willst doch, dass Kisk lernt, wie man in absoluter Finsternis Menschen führt, nicht wahr? Aber wie kannst du ihr etwas beibringen, wenn du dich selbst nicht zurechtfindest.«
»Erstens bin ich fremd hier, und zum anderen sehe ich nicht die Hand vor Augen«, verteidigte sich der Junge.
Nuella zog arrogant die Nase hoch. »Mir macht das nichts aus, denn ich bin ja ohnehin blind. Sag mal, Kindan, hast du noch nie versucht, mit geschlossenen Augen zu gehen?«
»Nein«, erwiderte er. Im selben Moment stieß er mit dem Fuß gegen einen Stein, verlor das Gleichgewicht und landete auf Händen und Knien.
»Dann wird es höchste Zeit, dass du es lernst.« Im Plauderton fügte sie hinzu: »Es war das erste Spiel, das ich gemeinsam mit Dalor spielte.«
»Wirklich?«
»Nun ja, wenn wir irgendetwas gemeinsam unter-nahmen, war er mir natürlich immer überlegen, weil ich ja nicht
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