Drachenwege
aus dem Weg gegangen, um die auf Gegenseitigkeit beruhende Ver-achtung zu demonstrieren, oder sie hatten sich so lange geprügelt, bis sie von einem Erwachsenen oder größeren Knaben gewaltsam getrennt wurden. »Wieso treibst du dich draußen herum? Lauerst du vielleicht jemandem auf?«
Cristov ballte die Fäuste, und er funkelte Kindan wütend an.
Dessen Sinn für Gerechtigkeit siegte, und er lenkte ein. »Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken. Aber im Ernst, wieso bist du nicht im Haus?«
»Ich ... na ja ...« Der sonst so zungenfertige Cristov wirkte verlegen. Offenbar fiel es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. Schließlich platzte er heraus:
»Meine Mutter sagt, Wachwhere seien schöne Tiere. Ich wollte nachsehen, ob das stimmt.«
Kindans Augen weiteten sich vor Verblüffung. Auch Kisk gab einen verwunderten Ton von sich und reckte den Hals, um Cristov ins Gesicht spähen zu können.
Dabei musste sie den Schwanz in die Höhe strecken, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor. Kindan staunte, wie weit der Wher seinen sehnigen Hals vor-strecken konnte, der immer länger zu werden schien -
Kisks Kopf reichte fast bis an sein Kinn heran.
»Ich weiß, dass mein Vater diese Tiere nicht mag«, fuhr Cristov hastig fort und hielt dem Wachwher seine Hand hin, »aber meine Mutter meint, wir müssten sie respektieren. Außerdem sollte sich jeder seine eigene Meinung über sie bilden.«
Kisks Zunge schnellte aus dem Maul und beleckte Cristovs Hand. Offenbar ängstlich geworden, zog der Junge seine Hand zurück. Daraufhin gab der Wher einen traurig klingenden Laut von sich, als wolle er fragen, ob Cristov ihn nicht leiden könnte.
»Jähe Bewegungen erschrecken sie«, erklärte Kindan.
Und weil er ehrlich war, fügte er hinzu: »Ich glaube, Kisk mag dich. Sie leckt nicht jedem die Hand.«
Mutig streckte der Junge abermals die Hand aus.
Vielleicht ging es Kisk zu schnell, denn zuerst versteckte sie ihren Kopf hinter Kindans Rücken. Doch langsam näherte sie sich wieder der dargebotenen Hand.
Nachdem sie die Innenfläche ausgiebig abgeleckt hatte, nieste sie ein paarmal, und hinterher schleckte sie mit der Zunge Cristovs Gesicht ab.
Als Kindan das Niesen hörte, verbiss er sich ein Schmunzeln. Ihm fiel ein, was Nuella über das Duftwasser gesagt hatte, mit dem sich Cristov verschwenderisch parfümierte.
Kindan lächelte den Jungen an. »Sie hat Vertrauen zu dir gefasst.«
»Cristov!«, rief eine Männerstimme aus dem Haus.
Es war Tarik.
»Ich bin hier!«, antwortete der Junge. Ehe Kindan mit Kisk den Rückzug antreten konnte, erschien Tarik im Türrahmen.
»Was ist hier los?«, donnerte Tarik.
»Ich wollte mir nur den Wachwher ansehen«, erwiderte Cristov tapfer, aber Kindan merkte ihm an, dass er sich vor seinem Vater fürchtete.
Tarik verließ das Haus und ging zu den Jungen. Aus schmalen Augenschlitzen betrachtete er Kisk.
»Das ist also der Wachwher, der für unsere Sicherheit sorgen soll?«, spottete der Mann. »Er ist ja noch kleiner als ein Wherry*. Und für diese Missgeburt hat Ima sein bestes Fleisch hergegeben?«
»Ich finde, Kisk ist sehr hübsch«, warf Cristov schüchtern ein.
»Die Aufzucht von einem solchen Vieh betrachte ich als glatte Zeitverschwendung. Es lohnt sich nicht, sich mit solchen Kreaturen abzugeben.« Abschätzig fasste er Kindan ins Auge. »Und jemand, der seine Arbeitskraft mit diesem Firlefanz vergeudet, kann auch nicht viel taugen.«
Kindan richtete sich zu seiner vollen Größe auf und blitzte Tarik empört an. »Steiger Natalon hält einen Wachwher für so wichtig, dass er Kisk gegen Kohle für einen ganzen Winter eingetauscht hat.«
Tarik lachte bellend. »Mein Neffe ist ein Trottel. Ich darf gar nicht daran denken, was wir für soviel Kohle hätten einkaufen können. Dinge, die wir wirklich brauchen!«
»Tarik!«, rief Dara vom Haus her. Sie spähte aus der Tür. »Du hast Cristov gefunden. Gut. Und jetzt kommt beide ins Haus, das Abendessen ist fertig.« Als sie Kindan erkannte, lächelte sie ihm zu. »Ach, Kindan! Schön, dich mal wieder zu sehen. Ist das dein Wachwher?«
Kindan merkte, wie sie ihren Ehemann argwöhnisch musterte. »Ein grüner. Hat er schon einen Namen?«
»Es ist ein weibliches Tier, und es heißt Kisk,
* Wherry oder Wherhuhn: Eine Art Geflügel, das Ähnlichkeit mit den Truthühnern auf der Erde hat, aber so groß wie ein Straußenvogel werden kann. - Anm. d. Übers.
Ma'am«, antwortete Kindan höflich.
Dara nickte.
Weitere Kostenlose Bücher