Drachenwege
Kindan argwöhnte, Natalon habe dem Buben befohlen, ein Auge auf ihn zu halten. Der Steiger fühlte sich für die Kinder verantwortlich, die Angehörige bei dem Grubenunglück verloren hatten. Kindan hatte nichts dagegen, wenn Dalor sich um ihn kümmerte, er mochte ihn eigentlich recht gut leiden.
Dalor, der vorausgeeilt war, blickte über die Schulter, um sich davon zu überzeugen, ob Kindan ihm auch wirklich folgte. Sein Blick drückte tiefes Mitgefühl aus.
»In der Burg gibt es Glühwein zum Aufwärmen« -
nur Dalor und seine Familie bezeichneten ihr Wohnhaus als »Burg« - »und Vater hat gesagt, wir dürften davon trinken.«
* * *
»Neun Tote, man kann es kaum fassen«, sagte Milla zu Jenella, Dalors Mutter, als die Jungen die Küche betraten. »Die meisten Opfer stammten aus ein und derselben Familie - Danil und seine Söhne. Was soll jetzt nur aus dem armen Kindan werden? Die beiden älteren Buben sind in Pflegefamilien untergekommen, und ich begreife nicht, wieso man den Jüngsten nicht auch zu freundlichen Leuten gegeben hat. Es muss doch ein unheimliches Gefühl sein, wenn er jetzt mutterseelenallein in dem leeren Haus schläft.«
Jenella sah die beiden Jungen hereinkommen und hüstelte betont, um Milla ein Zeichen zu geben. Doch Milla, die der Tür den Rücken zukehrte und damit beschäftigt war, einen Teig zu kneten, ignorierte den Wink. »Kriegst du schon wieder Husten, Jenella? Kein Wunder, bei dieser Kälte. Aber du solltest etwas dagegen nehmen, damit die Erkältung nicht schlimmer wird. Und das ausgerechnet jetzt, wo du wieder in der Hoffnung bist.«
Während sie energisch den Teig bearbeitete, schnat-terte sie weiter drauflos: »Neun Tote, drei Verletzte, und der arme Zenor beansprucht den Arbeitsplatz seines Vaters im Pütt. Obendrein wird Norla, seine Mutter, überhaupt nicht mit der Situation fertig.« Sie verteilte die Teigmasse in Backformen. »Jetzt fehlt ein Schichtführer - ich frage mich, woher sie einen neuen bekommen, der der Aufgabe gewachsen ist.«
»Dalor, Kindan, meine Güte, ihr seht ja halb erfroren aus«, rief Jenella den Jungen zu, Milla das Wort ab-
schneidend. »Milla, bist du so lieb und schenkst ihnen etwas von dem Glühwein ein? Ich würd's ja selbst tun, aber im Augenblick fällt mir das Aufstehen ziemlich schwer.«
Jenella war im siebenten Monat schwanger. Kindan wusste, dass sie ihr letztes Baby verloren hatte. In jener Nacht war Silstra bei ihr gewesen, und als sie später nach Hause kam, hatte sie sich in den Schlaf geweint.
»Ach du meine Güte!« Erschrocken drehte Milla sich um. »Es tut mir Leid, Jungs, ich hab euch nicht hereinkommen hören. In dem Schrank dort findet ihr Becher.
Bedient euch selbst, ich muß die Kuchenformen in den Backofen schieben.«
»Kein Problem, Milla«, erwiderte Dalor bereitwillig.
Er war größer als Kindan und reichte mit Leichtigkeit an die Becher heran. Kindan vergegenwärtigte sich, dass er sich auf einen Schemel hätte stellen müssen, und wieder einmal fuchste es ihn, dass er offenbar im Wachstum zurückgeblieben war. Er war sechs Monate älter als Dalor, jedoch einen Kopf kleiner als er.
Sie füllten die Becher mit dem heißen, gewürzten Wein - durch das Aufkochen hatte sich der meiste Al-kohol verflüchtigt, anderenfalls hätten die Jungen ihn nicht trinken dürfen - und suchten sich einen Platz auf der Bank. Dort saßen sie ganz still da, versuchten, möglichst nicht aufzufallen, und hofften, man würde sie eine Weile in Ruhe lassen. Aber im Grunde wussten beide, dass man ihnen schon bald wieder irgendeine Arbeit aufhalsen würde.
»Natalon möchte mit dir sprechen, Kindan«, wandte sich Jenella an ihn. »Er wird gleich jemanden hierher schicken, der dich abholt.«
»Ja, Ma'am ...« Dalor rammte ihm seinen Ellbogen in die Rippen und funkelte ihn warnend an, und hastig korrigierte sich Kindan: »Ja, meine Lady.«
Kindan war sich nie sicher gewesen, wie er Dalors Mutter anreden sollte. Verglichen mit seiner Schwester kam sie ihm reichlich unbedarft vor - Sis war so viel tüchtiger als Jenella -, aber wenn Natalon dafür sorgte, dass aus Camp Natalon ein offizielles Bergwerk würde -
die Zeche Natalon -, wirkte sich dies automatisch auf Jenellas gesellschaftlichen Rang aus. Dann bekäme sie die gleichen Rechte und Privilegien wie die Gemahlin eines Burgherrn.
Doch um zu beweisen, dass sich eine Förderanlage lohnte, um die Lagerstätten auszubeuten, mussten sie zuerst einmal genügend Kohlenflöze
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