Drachenwege
anderen Jugendlichen, die zum Wachdienst abkommandiert wurden, unterstanden. Wären Jakris oder Tofir im Camp geblieben, wäre ihnen diese Aufgabe zugefallen. Und zu seinem gelinden Schreck musste Kindan feststellen, dass er mittlerweile der älteste Junge im Camp war, der nicht im Pütt arbeitete.
Als Kindan von seinem erhöhten Beobachtungspunkt aus Zenor zum ersten Mal in seinem Grubenzeug* sah, das früher seinem Vater gehört und passend für ihn zurecht geschneidert worden war, empfand er eine seltsame Mischung aus Scham, Respekt und Kummer.
Scham, weil er nicht selbst unter Tage ging; Respekt, weil sein bester Freund Zenor die Arbeit eines erwachsenen Mannes verrichtete; und Kummer, weil Zenors neue Tätigkeit ihn immer wieder an das Unglück erinnerte, das nicht nur viele Menschenleben gekostet, sondern auch die Kindheit seines Freundes jählings beendet hatte.
Doch bald merkte Kindan, dass die vielen Pflichten, die man ihm aufbürdete, ihm nicht viel Zeit ließen, seinen traurigen Erinnerungen nachzuhängen. Er wusste nicht, ob man ihn mit Absicht so viel beschäftigte, um ihn von seinem Verlust abzulenken, oder ob man im Camp seine Arbeitskraft wirklich so nötig brauchte.
Wenn er sich davon überzeugt hatte, dass der Zeitplan für die Wachen eingehalten wurde und Kuriere bereit standen, um eventuelle Eilmeldungen in alle Himmels-richtungen zu übermitteln, musste er eine Gruppe von Kindern beaufsichtigen. Diese Jungen und Mädchen, zwischen neun und zehn Planetenumläufen alt, halfen dabei, die Äste von den Bäumen zu entfernen, die die Erwachsenen tags zuvor gefällt hatten.
Zenors Mutter, Norla, betätigte sich derweil als Kin-dergärtnerin, wobei ihr ihre Erfahrung mit ihrer eigenen Nachkommenschaft zugute kam. Ehe die Frauen des Camps zur Feldarbeit loszogen, brachten sie ihr die Kinder, die noch zu klein waren, um sich selbst überlassen zu bleiben. Tag für Tag bestellten die Frauen die im Tal gelegenen Äcker, arbeiteten in den Gärten oder
* Bekleidung des Bergmanns - Anm. d. Übers.
halfen den Männern, das Holz der gefällten Bäume zu Stempeln zu verarbeiten, mit denen man die Gänge in der Grube abstützte.
Der Vorschlag, Norla solle eine Kinderkrippe einrichten, stammte von Meister Zist. Er fand, der jungen Frau, die nur schwer über den Tod ihres Ehemannes hinwegkam, täte es gut, wenn sie eine sinnvolle Beschäftigung hätte, und auf diese Weise konnte sie ihre jüngsten Kinder stets bei sich haben.
Früher hatten sich die Mütter der Reihe nach abge-wechselt und die Kinder der Frauen betreut, die gerade einer Arbeit nachgingen, nun übernahm Norla vollständig diese Aufgabe. Frühmorgens brachte man ihr die Kinder, und in ihrem Cottage stapelten sich saubere wie benutzte Windeln. Hin und wieder, wenn eine Frau die Zeit erübrigen konnte, schaute sie bei Norla vorbei, um sich davon zu überzeugen, dass es ihrem Sprössling gut ging. Und die verwitwete Norla hatte ständig Kontakt mit anderen Menschen und lief nicht Gefahr, zu vereinsamen.
Die Kohlenhalde auf der anderen Seite des Tals wuchs beständig, doch ganz ohne Probleme ging dies nicht vonstatten.
Kindan bekam viele Gespräche mit, die des Nachts in der Hütte des Harfners geführt wurden. Die Männer unterhielten sich meistens im Flüsterton, doch im Wesentlichen wusste Kindan, worum es ging. Indes erinnerte er sich an die mahnenden Worte des Harfners und hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das Gehörte weiterzuerzählen.
Mit Ausnahme von Tarik, der demonstrativ fern blieb, suchten nach und nach alle Bergleute des Camps den neuen Harfner auf, um ihm ihren Respekt zu erweisen. Viele von ihnen ließen es nicht bei diesem einen Besuch bewenden, sondern kehrten zurück. Und alle waren besorgt.
»Gewiss, wir fördern reichlich Kohle, aber wie lange noch?«, lautete die allgemeine Klage. »Wenn wir nicht weitere Stollen graben und neue Flöze erschließen, müssen wir anfangen, die Kohlensäulen abzubauen.
Oder wir stellen den Grubenbetrieb ganz ein.«
Am nächsten Morgen war Kindan nicht überrascht, als der Meisterharfner ihn aufforderte, ihm zu erklären, was man unter einer Kohlensäule verstand.
»Kohle findet man in Flözen unter der Erde«, hatte Kindan geantwortet. »Darüber liegt das Gebirge, welches einen ungeheuren Druck ausübt. Wenn man eine Lagerstätte erschließt und Hohlräume schafft, lässt man in gewissen Abständen große Säulen aus Kohle stehen, damit die Decke des Stollens nicht
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