Drachenwege
deine Zunge auch.«
Cristov sprang auf die Füße, doch ehe die beiden Jungen aufeinander losgehen konnten, packte eine große Hand Kindan beim Ohr und zerrte ihn in die Festung zurück.
»Ich kümmere mich darum«, grollte Meister Zist mit seinem tiefen Bass. Cristov grinste triumphierend, als er zusah, wie Kindan buchstäblich abgeführt wurde.
»Wisch dir die Schuhe ab«, befahl der Harfner, als sie den Eingang zur Festung erreichten. Kindan gehorchte, weil der schmerzhafte Griff an sein Ohr gar nichts anderes zuließ, und Meister Zist bugsierte ihn ins Klassenzimmer.
»Setz dich hin«, ordnete der Meister an und deutete auf einen Stuhl an einem der langen Tische. Kindan nahm Platz und rieb sich das brennende Ohr.
»Hör auf, an deinem Ohr herumzureiben, du hast die Schmerzen verdient«, donnerte der Harfner. »Und jetzt möchte ich von dir hören, was du falsch gemacht hast, und welche Reaktion richtig gewesen wäre.«
Kindan zog die Stirn kraus und versuchte, nicht an sein schmerzendes Ohr zu denken. »Cristov hat gesagt
...«
»Vergiss nicht, dass du bei mir eine Ausbildung zum Harfner bekommst«, unterbrach der Meister seine Ti-rade. »Von dir erwarte ich, dass du besser mit Worten umgehst als die meisten anderen Menschen. Denn Worte sind später dein Handwerkszeug.«
»Aber ...«
Meister Zist hob die Hände, und Kindan verstummte.
»Nenne mir drei gute Eigenschaften von Cristov«, forderte der Harfner den Buben auf.
Kindan klappte den Mund zu und dachte angestrengt nach. »Nun ja, er ist stark.«
Meister Zist reckte einen Finger in die Höhe und nickte Kindan ermutigend zu.
»Seine Mutter liebt ihn.«
»Das ist eine gute Eigenschaft der Mutter«, wandte der Meister trocken ein.
»Muss ein angehender Harfner nicht in der Harfnerhalle unterrichtet werden?«, versuchte Kindan das Thema zu wechseln.
»Ein Meisterharfner ist dazu berechtigt, Lehrlinge an jedem beliebigen Ort auszubilden«, erwiderte Zist.
»Wenn es an der Zeit ist, Prüfungen abzulegen, schickt er sie zur Harfnerhalle.« Mahnend hielt er Kindan seinen Zeigefinger unter die Nase. »Du bist noch nicht fertig.«
»Hmm, na ja ... rechnen kann er nicht ... und im Schreiben ist er auch eine Niete ...«
»Das sind Fehler, und keine Tugenden«, korrigierte Zist den Jungen und stieß einen Seufzer aus.
»Ich weiß«, wehrte sich Kindan. »Ich denke nur laut nach ...«
»Ich sehe schon, so kommen wir nicht weiter«, meinte der Harfner. »Es dauert mir zu lange, und wir beide haben heute noch viel zu tun. Um deiner Phantasie auf die Sprünge zu helfen, habe ich mir Folgendes ausgedacht: Ab jetzt gehst du jeden Abend, nachdem du deine üblichen Pflichten erledigt hast, zu Tarik nach Hause und wäscht dort die schmutzige Kleidung. Das wirst du so lange tun, bist du mir drei gute Eigenschaften von Cristov aufzählen kannst.
Außerdem musst du dich bei ihm entschuldigen, weil du ihm ein Bein gestellt hast.«
»Aber ... aber ...«, stotterte Kindan. »Ich glaube nicht, dass Cristovs Mutter es mir erlaubt, deren Wäsche zu waschen.«
»Sorge dafür, dass sie es dir gestattet«, entgegnete der Harfner mitleidlos. »Wie du es anfängst, ist deine Sache. Aber ich bestehe darauf!«
Kindan verdrehte die Augen.
Meister Zist drohte ihm mit dem erhobenen Zeigefinger. »Wenn du mit diesem Gesicht vor Dara trittst, wird sie dich gleich hinauswerfen. Lass dir also etwas einfallen.« Dann erhob er sich von seinem Stuhl. »Und jetzt lauf los und besorg dir etwas zu essen! Wenn du dich beeilst, ist vielleicht noch etwas übrig.«
»Und was ist mit dir, Meister? Bist du denn gar nicht hungrig?«
Meister Zist drückte die Schultern durch und nahm eine vornehme Pose an. »Ich habe eine Verabredung mit einer jungen Dame, da denkt man nicht ans Essen.« Als er Kindans verdutzte Miene sah, scheuchte er ihn mit raschen Handbewegungen aus dem Zimmer. »Nun mach schon, Junge. Ab mit dir!«
* * *
Zwei Abende lang schuftete Kindan in Tariks Haus, ehe er herausfand, welche drei Tugenden Cristov besaß.
Es waren Ehrlichkeit, Loyalität und Integrität. Kindan mogelte sich in Daras Waschküche, indem er ihr vorflunkerte, er hätte dort früher immer die schmutzige Wäsche gewaschen und verbände damit schöne Erinnerungen. Ob sie wohl so freundlich wäre, ihn ein paar Mal ihre Wasche waschen zu lassen, damit er die guten alten Zeiten wieder aufleben lassen könnte? Als Kindan scheinheilig Dara seinen Wunsch vortrug, hatte sich Cristov vor Lachen gebogen, und
Weitere Kostenlose Bücher