Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
anderen nicht auf diese Gedanken gekommen,
ehe wir dem Grafen die Schuld am Ableben der Mannschaft gaben? »Wenn Sie all diese Männer nicht umgebracht haben, was ist
dann mit ihnen geschehen?«, verlangte ich von ihm zu wissen.
»Ich kann Ihnen nur sagen, was mir bekannt ist, denn den größeren Teil der Seereise habe ich unter Deck verbracht. Ich hatte
dafür gesorgt, dass ich vor meiner Abreise aus Varna genügend Nahrung zu mir genommen hatte. Ich brauche nicht mehr viel Blut,
es sei denn, ich bin bemüht, die gesunde rosige Hautfarbe zu erhalten, die den Sterblichen so gut gefällt. Das wenige Blut,
das ich während der einmonatigen Reise benötigte, um am Leben zu bleiben, habe ich mir von den Ratten an Bord geholt. Wir
waren schon elf Tage auf See, als ich |279| eines Abends spät an Deck ging, um frische Luft zu schnappen. Wie ich schon bald feststellen sollte, war dies ein schwerwiegender
Fehler. Am nächsten Tag tauchte die gesamte Mannschaft unter Deck auf, um den Frachtraum zu durchsuchen. Ich lag sicher geschützt
in einer meiner Kisten, die sie zum Glück nicht zu öffnen versuchten. Ihren Gesprächen entnahm ich, dass einer von der Besatzung,
ein gewisser Petrowski, ein Mann, dem man eine große Vorliebe für Alkohol nachsagte, zwei Nächte zuvor unter geheimnisvollen
Umständen verschwunden war und dass am Vorabend der Wachhabende kurz einen hoch aufgeschossenen Fremden an Deck gesehen haben
wollte. Ich kann nur vermuten, dass Petrowski in betrunkenem Zustand gestrauchelt und über Bord gegangen sein muss. Sein Verschwinden
zusammen mit dem unglückseligen Zufall, dass ich an Bord beobachtet wurde, hat jedoch zu Panik und abergläubischer Angst unter
den Matrosen geführt, die nun fürchteten, dass sich jemand oder etwas höchst Seltsames an Bord aufhielt. Da ich keine weitere
Unruhe verursachen wollte, blieb ich die nächsten sechs Tage in meiner Kiste. Doch diese Gefangenschaft und Reglosigkeit ist
nicht leicht zu ertragen. Schließlich vermochte ich es nicht länger in meinem Gefängnis auszuhalten. Ich ging wieder an Deck,
war mir allerdings nicht darüber im Klaren, dass der Wachhabende im Hinterhalt lag, um nach mir Ausschau zu halten. Er stürzte
sich mit seinem Messer auf mich. Ich hatte keine andere Wahl, als ihn zu töten und über Bord zu werfen.«
»Haben Sie ihn ausgesaugt, ehe Sie …«
»Würde es etwas ändern, wenn ich das getan hätte? Mein Überleben war doch gefährdet. Der Mann hätte den anderen von seinen
Beobachtungen erzählt, und die hätten vielleicht mein Versteck entdeckt. Den Rest der Reise verbrachte ich im Frachtraum,
doch oben scheint dann das Chaos ausgebrochen zu sein. Der erste Maat, ein abergläubischer Rumäne, hat wohl das Verschwinden
der zweiten Person als Zeichen |280| gedeutet und ist – wie der Kapitän in seinem Logbuch festhielt – anscheinend verrückt geworden. Soweit ich feststellen konnte,
hatte er es sich in seinem Wahn zur Aufgabe gemacht, jedes Mitglied der Mannschaft, dem er nachts allein an Deck begegnete,
zu erstechen und den Fischen vorzuwerfen, vielleicht weil er hoffte, sie so davor zu bewahren, ihrerseits Vampire zu werden,
oder weil er fürchtete, sie seien bereits verwandelt worden. All das fand ich jedoch erst heraus, als wir unser Reiseziel
beinahe erreicht hatten.«
»Sie sagen, dass Sie nichts mit dem Tod dieser Männer zu tun hatten? Dass der erste Maat die anderen Matrosen umgebracht hat?«
»Ja.«
»Warum hat er dann gesagt, er sei dem Fremden an Bord begegnet, und als er versucht hätte, ihn mit dem Messer zu töten, sei
die Klinge aber wie durch leere Luft hindurch gegangen?«
»Konnte ich denn zulassen, dass sich frühere Ereignisse wiederholten? Als er mich überfiel, hätte ich zulassen sollen, dass
er mich erstach? Nein, diesmal verschwand ich einfach wieder im Frachtraum. Der Maat selbst hat mich als ›geister bleich ‹ beschrieben – was ich, und das versichere ich Ihnen, Mina, niemals gewesen wäre, hätte ich gerade sieben Matrosen rasch
nacheinander das Blut ausgesaugt. Als er nach unten kam und mich entdeckte, sah ich den Schrecken in seinen Augen. Er ist
freiwillig über Bord gesprungen, um ›seine Seele zu retten‹. Auch das werden Sie in dem veröffentlichten Logbuch finden. Was
den Kapitän betrifft, so bin ich vor ihm erschienen, nachdem ich gemerkt hatte, dass nur noch wir beiden an Bord waren. Ich
habe ihm mein Hilfe beim Führen des Schiffs
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