Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
befanden sich an der üblichen Stelle, aber vom Professor war nichts zu sehen.
Ich rief nach ihm, erhielt aber keine Antwort. Zu meinem Erstaunen waren auch die Pferde und der Wagen verschwunden. Ich war
allein!
Ringsum lag der Wald ruhig und still. Das einzige Geräusch war das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln. Wo war Dr. van
Helsing? Warum hatte er mich allein hier zurückgelassen? Zwar hatte der Schutzkreis aus geweihten Hostien gegen die weiblichen
Vampire geholfen, aber der Professor wusste doch sicherlich, dass er mich vor Wölfen nicht schützen würde!
Nun stürzten die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Nacht über mich herein. Gewiss war es Dracula
gewesen, der da als Fledermaus angeflogen gekommen war und die scheußlichen Vampirfrauen vertrieben hatte. Wenn ich durch
die Bäume nach oben blickte, konnte ich wenige Meilen entfernt seine Burg auf ihrem Felsen stehen sehen.
|466| Plötzlich dämmerte mir, wo Dr. van Helsing war. Er war zur Burg hinaufgegangen, um seine tödliche Aufgabe zu erfüllen!
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Zutiefst besorgt sprang ich auf und hatte sogleich mit einem kurzen Schwindelanfall zu kämpfen. Dracula hatte es ausdrücklich
untersagt, zu seiner Burg hinaufzugehen. Ich hatte gesehen, wie wunderschön und verführerisch die drei Frauen waren. Ich konnte
nicht vergessen, dass sie sich einst auf Jonathan gestürzt und nach seinem Blut gedürstet hatten und dass er, wie er selbst
eingestanden hatte, damals von der Lust völlig überwältigt wurde und keinerlei Willenskraft mehr besaß, um ihnen Widerstand
zu leisten. Mir wurde nun klar, dass mich in Draculas Gegenwart die Begierde auf ganz ähnliche Weise gepackt hatte. Vergangene
Nacht hatte ich im Traum selbst den drängenden sexuellen Trieb eines Vampirs verspürt!
Dr. van Helsing schien zu glauben, dass Vampire während des Tages völlig kraftlos sind, doch ich wusste es besser. Trotz seiner
Tasche mit allen möglichen Utensilien und trotz seiner felsenfesten Überzeugung konnte er unter Umständen leichte Beute für
sie werden. Ich musste ihm zu Hilfe eilen, so viel war mir klar, und zwar unverzüglich. Vielleicht war es aber auch schon
zu spät! Doch wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich war ja von geweihten Hostien eingekreist und wagte nicht, diese Hürde
zu übersteigen!
Da hörte ich in den Bäumen in der Nähe ein Keckern. Zwischen wogenden Ästen erspähte ich zwei Eichhörnchen, die einander fröhlich
jagten. Mir kam ein Gedanke. Ich lockte die beiden Tiere mit schmatzenden Geräuschen an. Die kleinen Wesen kamen den Baumstamm
hinuntergeflitzt und ließen sich auf den Waldboden fallen, wo sie wie angewurzelt stehen blieben und mich anstarrten. Ich
rief weiter nach ihnen und |467| deutete auf die Hostienkrümel vor mir auf der Erde. Die Eichhörnchen kamen näher, wagten aber jedes Mal nur einige wenige
zögerliche Schritte. Ich stand völlig reglos da, denn ich wollte sie nicht erschrecken. Beide machten sich über die Hostienkrümel
her und verspeisten jeder einen. Rasch fraßen sie weitere Bröckchen, stopften sich dann noch einen Vorrat in die Backen und
rannten in den Wald zurück.
Lächelnd sah ich, dass sie mir auf diese Weise eine kleine Öffnung im Kreis frei geräumt hatten, gerade eben breit genug,
dass ich hindurchtreten konnte. Vorsichtig verließ ich den Kreis und hielt dann inne. Falls der Professor in Gefahr war, würde
ich sicherlich eine Waffe benötigen. In der Nähe bemerkte ich einen der Pflöcke, an denen er herumgeschnitzt hatte, einen
dicken, etwa achtzehn Zoll langen Holzpfahl, dessen Spitze noch nicht ganz fertig war. Besser eine schlechte Waffe, überlegte
ich, als gar keine. Ich ergriff den Pfahl und eilte den Hügel hinunter.
Ich rannte, so schnell mich meine Füße trugen, nahm eine Abkürzung durch den Wald, kämpfte mich durch das Unterholz und eilte
schnurstracks auf die Burg zu. Schließlich landete ich wieder auf der unbefestigten Straße, die schmal und sehr unwegsam war.
Außerdem war sie wegen des gerade geschmolzenen Schnees sehr schlammig. Sie schlängelte sich den steilen Hang hinauf zur Burg,
und ich folgte ihr. Das uralte Gebäude thronte in all seiner Pracht hoch über mir.
Inzwischen waren mein Rock und der Wollumhang völlig durchnässt und am Saum mit Schmutz verkrustet. An einigen schattigen
Stellen entlang der Straße lag noch Schnee. Aus der Felswand, die über mir aufragte, wuchsen
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