Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
küsste mich. Niemals habe ich einen solchen Kuss erlebt! Was für eine Ekstase ich verspürte,
kann ich kaum beschreiben. Meine Gedanken waren nur noch weiche Watte. Dann plötzlich hielten mich zwei umfangen, nicht nur
eine. Und dann …« Peinlich berührt schüttelte er den Kopf. »Nie, nie im Leben habe ich mich so geschämt.«
Oh, wie gut ich die Gefühle verstand, die er soeben durchlebt hatte! Wie viele Male hatte ich genau diese Ekstase verspürt,
wenn Nicolae mich in seinen Armen hielt!
»Quälen Sie sich nicht, Herr Professor. Sie trifft keine Schuld. Und nun ist alles vorüber. Sie sind alle tot.«
»Nein, sie sind noch nicht tot, Frau Mina. Selbst diese hier, deren Kopf der Wolf beinahe abgerissen hat, ist vielleicht noch
nicht völlig tot. Wenn wir nicht allen dreien den Kopf |475| vollständig abschneiden, könnten sie trotz allem wiedergeboren werden.«
Ich erbleichte. »Ich werde Ihnen helfen.«
»Nein. Dies ist eine blutige Arbeit, wirklich eine Fleischerarbeit. Ich würde nicht wünschen, dass Sie diese Erinnerung, die
Ihnen noch viele Jahre Unruhe bereiten würde, in Ihren Gedanken mit sich herumtragen, Frau Mina. Ich mache das.«
»Ich bin bis hierher gekommen, Herr Professor. Ich möchte sehen, wie es gemacht wird.«
Zögernd und voller Zweifel stimmte er mir schließlich zu. Er holte seine Sägen und die anderen Messer herbei. Und wir vollendeten
die grauenhafte, blutige Tat, dreimal nacheinander. Es war wirklich furchtbar. Mich schaudert, wenn ich daran zurückdenke.
Der einzige Trost kam immer im allerletzten Augenblick, als das Messer den Kopf der Vampirfrau vollends abgetrennt hatte.
Denn in jenen kurzen Sekunden meinte ich süßen Frieden auf den faltigen Gesichtern zu erblicken, als sei die Seele des früheren,
guten Menschenwesens nun erlöst und könnte endlich ihren Platz unter den Engeln einnehmen. Dann schwanden die Leiber vor unseren
Augen dahin und zerfielen zu Staub wie die Asche eines erloschenen Feuers. Es war, als hätte der Tod, der schon Jahrhunderte
früher hätte kommen sollen, nun endlich sein Recht geltend gemacht.
Auf dem Rückweg zu unserem Lager fragte mich der Professor, wie ich es geschafft hatte, aus dem geweihten Kreis auszubrechen,
in dem er mich zurückgelassen hatte. Als ich meine Erklärungen beendet hatte, dankte er mir noch einmal dafür, dass ich zu
seiner Rettung herbeigeeilt war, und sagte beschämt: »Darf ich Sie um einen Gefallen bitten, Frau Mina?«
»Natürlich, Herr Professor.«
»Wären Sie so freundlich, keiner Menschenseele auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen? Ich könnte den Kopf nicht
mehr hochhalten, wenn die anderen wüssten, wie schwach ich war und wie leicht ich dem Zauber der Vampirfrauen erlegen bin.«
|476| Das versprach ich ihm und meinte, er könnte ja die Ereignisse in seinem Tagebuch festhalten, wenn er wollte, und dabei meinen
Anteil an den Vorgängen auslassen.
Am spätnachmittäglichen Himmel hatten sich dunkle Wolken zusammengezogen. Der Professor sagte voraus, dass es erneut schneien
würde. Als wir unser Lager erreichten, merkte ich, dass ich großen Hunger hatte, und langte ordentlich zu bei dem Essen, das
ich zubereitet hatte. Dr. van Helsing errichtete einen improvisierten Unterstand, über dem er eine unserer Planen aufspannte,
die uns schützen sollte, während wir schliefen. Ich lag jedoch den größten Teil der Nacht fröstelnd unter meiner Pelzdecke
wach, bis schon beinahe der Morgen dämmerte. Immer und immer wieder durchlebte ich in Gedanken die Schrecken jenes furchtbaren
Nachmittags und die Angriffe der drei grausigen Frauen.
War dies das Schicksal, zu dem ich als Vampir verdammt sein würde?
Nicolae hatte gesagt, er würde mich unterweisen, damit ich so wie er würde. Aber was war, wenn es ihm nicht gelang? Was war,
wenn ich eine lüsterne, beutehungrige Furie wurde, so wie diese verführerischen Harpyien, ohne jegliche Skrupel, ohne Seele?
Am nächsten Tag, dem 6. November, schrak ich aus dem Schlaf auf, weil ich in meinen Gedanken Draculas Stimme vernahm.
Mina. Wach auf.
Müde blickte ich auf, während ich mir den Schlaf aus den Augen wischte. Unter meiner Pelzdecke im Schutze der Plane hervor
sah ich, dass der Boden mit einer leichten Schneedecke überzogen war. Ich steckte kurz den Kopf ins Freie. Am Stand der Sonne
erkannte ich, dass es später Nachmittag war. Der Himmel war mit dunklen Wolken übersät, und es war bitterkalt. Mehr
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