Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Schnee
lag in der Luft.
Ich bin hier
, antwortete ich, während ich mich wieder hinlegte.
Der Wolf, warst du das?
|477|
Ja. Ich wünschte, ich hätte früher dort sein können. Aber es war ja Tag, und ich hatte eine große Entfernung zu überwinden,
um zu dir zu gelangen.
Ich danke dir. Es tut mir leid.
Was tut dir leid? Meine schrecklichen Schwestern? Es war Zeit für sie. Sie sind nicht mit der Welt gewachsen, sondern gegen
sie. Ich hätte es schon vor Jahrhunderten selbst getan, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, meine Blutsverwandten
und meine einzige Gesellschaft zu töten. Ich bedaure nur, dass du dabei in solche Gefahr geraten bist.
Ich bin jetzt in Sicherheit. Außer …
Außer was?
Außer dass ich wie du werde. Es gibt keinen Zweifel mehr.
Ein kleines Schweigen senkte sich herab. Dann sagte er mit großem Bedauern in der Stimme:
Es tut mir leid, meine Liebste. Ich habe versucht, darüber nachzudenken, was ich jetzt tun soll. Aber da ich nicht weiß, wie
viel Zeit mir noch bleibt …
Wir werden das gemeinsam entscheiden. Doch das muss noch mindestens einen Tag warten. Endlich ist der Augenblick der Wahrheit
gekommen.
Du meinst heute?
Ja. Jonathan und Godalming sind flussaufwärts bis zur Bistritza gelangt … endlich. Die anderen beiden folgen nicht weit hinter
ihnen. Beide Parteien nähern sich nun auf ihren Pferden. Die Zigeuner werden schon bald den Aussichtspunkt erreichen und dort
meine Kiste von ihrem Boot abladen. Dort werde ich dann hineinklettern.
Wann wird … es geschehen?
In etwa ein, zwei Stunden. Kurz nach Sonnenuntergang. Der Zeitpunkt ist kritisch. Ich muss im Vollbesitz meiner Kräfte sein,
und doch muss es noch hell genug sein, dass sie mich gut sehen.
Was hast du vor?
Das wirst du schon bald herausfinden. Mina, eins ist wichtig: Der Professor muss als Zeuge dabei sein. Du musst ihn dorthin
bringen.
|478| Mein Puls setzte einen Schlag aus. Ich blickte unter der Plane hervor auf den Professor, der unweit von mir auf einem Baumstamm
saß und seine Winchesterbüchse putzte.
Wohin?
Geht etwa eine Meile durch den Wald. Ich werde dich führen. Dann kommst du auf eine Straße. Der folge noch etwa eine halbe
Meile in östliche Richtung. An der Flanke eines Hügels findest du einen hervorragenden Aussichtspunkt, der einen Blick auf
ein Stück der Straße bietet.
»Frau Mina, sind Sie wach?« Ich kroch unter der Plane hervor. »Ja, Herr Professor.«
»Sie haben so friedlich geschlafen, dass ich Sie nicht wecken wollte. Ich habe Kaffee zubereitet, und hier sind Brot und Käse.
Möchten Sie etwas davon?«
Der Geruch des Kaffees bereitete mir Übelkeit, und der Gedanke daran, etwas zu essen, war mir so zuwider, dass ich mich nicht
dazu überwinden konnte, wie gern ich ihm auch den Gefallen getan hätte. »Nein, danke«, antwortete ich, und er runzelte die
Stirn.
Brecht jetzt auf.
»Herr Professor«, sagte ich und ging zu ihm hinüber, »ich habe das starke Gefühl, dass Jonathan bald hier ist und dass das
Ereignis, auf das wir alle warten, heranrückt. Wir müssen ihm unverzüglich entgegengehen.«
Wir machten uns beinahe sofort auf den Weg. Wir sehen wohl aus wie zwei zerlumpte Soldaten, überlegte ich. Wir waren gegen
die bittere Kälte in Pelze gehüllt, unsere Kleidung war mit Schmutz und dem getrockneten Blut der Vampirfrauen verkrustet.
Außerdem trugen wir Waffen, Dr. van Helsing seine Winchesterbüchse und ich meinen Revolver. Wir machten uns zu Fuß auf, folgten
den Anweisungen, die mir Nicolae in die Gedanken schickte. Wir kamen nur sehr langsam voran, denn der Waldboden war mit Dickicht
zugewachsen und zudem mit einer dünnen Schneedecke überzogen. Außerdem fiel das Gelände steil ab.
|479| Schon bald bot sich uns ein Anblick, der mich entsetzt zurückweichen ließ. Am Fuß eines Baumes lag der Leichnam einer jungen
Frau. Ihr Blut hatte den sie umgebenden Schnee rot gefärbt. »Oh!«, entfuhr es mir. Sie war hübsch und dunkelhaarig und etwa
in meinem Alter. Aus dem, was von ihrer Kleidung noch übrig war, schloss ich, dass sie eine Bäuerin war. Ihr Gesicht war völlig
unkenntlich, ihre Gliedmaßen halb aufgefressen.
»Wölfe«, sagte Dr. van Helsing grimmig.
Wie aufs Stichwort hörte man aus der Ferne ein Heulen, das mir Angstschauer über den Rücken jagte. Ich verstand nun, warum
Dracula gezögert hatte, sich mir in seiner Wolfsgestalt zu zeigen. Er war wirklich ein außerordentlich schönes Tier
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