Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
diese Entfernung zurückzulegen. Als ich mich dem oberen Ende
der Treppe näherte, rang sich der Atem keuchend aus meiner Brust, und ich verspürte ein schmerzhaftes Seitenstechen, aber
ich eilte unbeirrt weiter. Endlich erblickte ich im trüb silbrigen Mondlicht am anderen Ende erneut die auf der Bank zurückgesunkene
blonde Gestalt. Es
war
Lucy! Zu meinem unermesslichen Entsetzen beugte sich irgendetwas Langes, Schwarzes über sie.
»Lucy! Lucy!«, schrie ich.
Ich erhielt keine Antwort. Ich schrak entsetzt zusammen, als sich die dunkle Gestalt hinter ihr aufrichtete und mich ein Paar
rotglühende Augen anstarrten. Was war es? Mensch oder Ungetüm? Und diese roten Augen! Es waren genau die Augen, die ich in
meinem Traum gesehen hatte! War dieses Wesen Wirklichkeit oder nur die Ausgeburt meiner Ängste und Phantasie?
Mein Herz pochte voller Bangen, als mir die Kirche einen Augenblick lang den Blick auf Lucy versperrte. Warum, fragte ich
mich, kauerte dieses Etwas – wenn es überhaupt Wirklichkeit war – so über Lucy? Was machte Lucy dort? War sie freiwillig zu
ihm gegangen? Hatte das Wesen sie überwältigt? War Lucy wach, oder schlief sie? Oder – gütiger Gott – war sie gar tot?
Ich eilte über den verlassenen Friedhof. Als ich endlich bei Lucy anlangte, war die geheimnisvolle Gestalt verschwunden. Lucy
war barfuß und lag halb zurückgelehnt auf der gusseisernen Bank. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre langen blonden Locken
lagen wie ein Fächer ausgebreitet um ihren Kopf. Ihre Lippen waren zu einem kleinen Lächeln verzogen, und sie atmete in langen,
beinahe sehnsuchtsvollen Zügen. Ich seufzte erleichtert auf. Sie lebte! Und zweifellos schlief sie. Ich schaute mich um, war
ängstlich besorgt, dass das rotäugige Phantom jeden Augenblick wieder erscheinen könnte. Doch ringsum war alles dunkel und
still.
|66| Nun überlief die schlafende Lucy ein leichtes Schaudern, als fröstelte sie wegen der Kälte. Rasch schlug ich ihr mein Tuch
um die Schultern und steckte es mit meiner Nadel fest, sodass es sich ihr fest um den Hals schmiegte. Dabei muss ich sie zu
meiner große Bestürzung versehentlich gestochen haben, denn sie fuhr sich mit der Hand an die Kehle und stöhnte. Ich setzte
mich neben sie, zog ihr meine Schuhe an die Füße und versuchte sie schonend zu wecken. Das war gar nicht einfach. Schließlich
musste ich einige Male ihren Namen rufen und sie kräftig rütteln, bis sie aufwachte.
»Mina?«, murmelte Lucy, als sie endlich die Augen aufschlug und mich verschlafen anlächelte. »Was ist? Warum hast du mich
geweckt?«
Ich versuchte, meine Stimme so ebenmäßig wie möglich zu halten, um sie nicht zu erschrecken. »Meine Liebe, du bist wieder
im Schlaf umhergewandelt.«
»Wirklich? Wie seltsam.« Lucy gähnte und räkelte sich. Dann schaute sie um sich und fragte überrascht: »Wo sind wir? Auf dem
Friedhof?«
»Ja, meine Liebe.«
»Oh!« Einen Augenblick lang sah sie verwirrt aus. Und dann – wenn sie auch einigermaßen entsetzt gewesen sein muss, dass sie
sich mitten in der Nacht hier auf dem Friedhof befand und nichts als ihr Nachthemd trug –, lächelte sie nur liebreizend, fröstelte
ein wenig, legte die Arme um mich und sagte: »Bin ich wirklich den ganzen Weg allein hier hinaufgegangen?«
»Leider ja. Lucy, ich habe jemanden bei dir gesehen. Erinnerst du dich an irgendetwas?«
»Nein, an gar nichts, seit ich mich zu Bett gelegt habe«, antwortete sie und wirkte nun doch ein wenig verängstigt. »Wen hast
du denn gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Ich war zu weit weg. Außerdem war es sehr dunkel. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet.«
»Ich erinnere mich an gar nichts«, wiederholte sie mit gerunzelter |67| Stirn, »außer daran, dass … ich geträumt habe. Es ist alles so verschwommen. Du weißt doch, dass ich mich nie an meine Träume
erinnern kann. Ich besinne mich nur noch darauf, dass ich einen Weg entlangging. Ich hörte einen Hund bellen, und dann sah
ich …« Plötzlich unterbrach sie sich, während ihre blauen Augen in die weite Ferne starrten.
»Was hast du gesehen?«
Lucy schwieg einen Augenblick. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte abrupt: »Jetzt ist es weg. Ich erinnere mich nicht mehr.«
Ich spürte, dass Lucy sich auf mehr besann, als sie zugeben wollte. Dies war jedoch weder die Zeit noch der Ort, sich danach
zu erkundigen. Der Gedanke an den grausigen Anblick der dunklen, rotäugigen Gestalt
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