Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
erfüllte mich noch immer mit Bangen. »Komm.
Ich muss dich jetzt unverzüglich nach Hause bringen.« Gehorsam erhob sich Lucy und gestattete mir, sie zu führen. Als wir
auf den Kiesweg kamen, bemerkte sie, dass ich zusammenzuckte, weil mir die scharfen Steine in die nackten Füße schnitten.
»Warte«, sagte Lucy. »Warum trage ich deine Schuhe? Du musst sie zurücknehmen.«
»Nein! Dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen nach Hause, und zwar schnell. Was wäre, wenn jemand uns sähe, wie wir barfuß
und leicht bekleidet mitten in der Nacht über einen Friedhof spazieren? Was würde der dann denken?«
Dieser Gedanke schien Lucy zu bestürzen. Sie behielt meine Schuhe und eilte voran. Auf dem gesamten Heimweg pochte mein Herz
vor Angst und der Furcht, man könnte uns sehen oder – was wesentlich schlimmer war – wir könnten dem rätselhaften Wesen vom
Kirchhof wieder begegnen. Wir gelangten in unsere Schlafkammer, ohne auf jemanden zu stoßen, und schlossen die Tür hinter
uns ab.
Nachdem wir uns die Füße gewaschen hatten, knieten wir neben mein Bett nieder, um zu beten und Gott zu danken, dass er uns
sicher und heil nach Hause geleitet hatte. Als wir |68| uns wieder erhoben, umarmte mich Lucy und sagte: »Danke, dass du nach mir gesucht hast, Mina.«
Wir hielten einander fest umschlungen. »Ich mag gar nicht daran denken, was geschehen wäre, wenn du ganz allein auf diesem
dunklen Friedhof aufgewacht wärst.«
»Ja«, war ihre knappe Antwort. Als sie sich aus meiner Umarmung löste, glaubte ich, kurz einen verschlagenen, rätselhaften
Ausdruck über ihre Züge huschen zu sehen. Was verschwieg sie mir? Es verlangte mich danach, sie das zu fragen, aber ich brachte
den Mut nicht auf. Schließlich hatte ich ja mein eigenes dunkles Geheimnis – meine Begegnung mit dem fremden Herrn auf dem
Friedhof.
»Ich bin so froh, dass du jetzt in Sicherheit bist. Aber ich würde doch gern wissen, wie du den Zimmerschlüssel von meinem
Handgelenk abbekommen hast, ohne mich zu wecken.«
Lucy zuckte die Achseln und erwiderte schlicht: »Es tut mir leid, auch daran kann ich mich nicht erinnern.«
Ich stand ruhig da, während Lucy mir den Schlüssel erneut mit einem Band ans Handgelenk knüpfte und darauf achtete, diesmal
den Knoten besonders gut festzuziehen. Wir schlüpften in die Betten. Lange war alles ruhig, während ich unter meiner Decke
zitterte und viel zu aufgeregt war, um schlafen zu können. Ich vermutete, dass Lucy eingeschlummert war. Doch dann vernahm
ich in der Dunkelheit ihre Stimme.
»Mina, würdest du mir einen Gefallen tun?«
»Was du willst, meine Liebe.«
»Versprichst du mir, von all dem keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen zu sagen? Nicht einmal Mama?«
Ich zögerte. Natürlich verstand ich, warum sich Lucy Sorgen machte. Falls eine solche Geschichte an die Öffentlichkeit durchsickern
würde, könnte ihr Ruf Schaden nehmen, nicht wegen ihres Schlafwandelns, sondern weil es unziemlich war, nachts nur leicht
bekleidet auf einem Kirchhof zu weilen, und weil eine solche Geschichte unweigerlich von den |69| Klatschbasen übel verzerrt weitererzählt werden würde. »Meinst du nicht, dass zumindest deine Mutter davon wissen sollte?«
»Nein. Mamas Befinden war in letzter Zeit nicht gut. Ich möchte ihr nicht noch mehr Grund zur Beunruhigung geben. Überleg
doch nur, wie sie sich aufregen würde, wenn sie all dies erführe! Außerdem ist sie auch selbst nicht die Diskretion in Person.
Sie und Arthur stehen einander sehr nah. Ich müsste vor Scham vergehen, wenn Mama ihm dies hier verriete.«
»Nun gut. Ich sage nichts. Wir tun so, als sei es nie geschehen.«
Am anderen Morgen schlief Lucy lange. Als ich sie um elf Uhr weckte, war sie ziemlich blass. Ihr Teint hatte über Nacht jede
Spur des rosigen Hauchs verloren, den ihm die Sommersonne verliehen hatte. Trotzdem war sie hervorragend gelaunt, als sie
aufwachte, hatte wieder ein strahlendes Leuchten in den Augen und ein kleines, selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen.
Damals konnte ich mir diese seltsamen Veränderungen nicht erklären, wenn ich sie auch später nur allzu gut verstand. Ich war
lediglich dankbar, dass unser nächtliches Abenteuer ihr keinen Schaden zugefügt zu haben schien, sondern ihr stattdessen offensichtlich
gutgetan hatte. Vielleicht, überlegte ich, ist sie aus einem sehr angenehmen Traum erwacht.
Als ich mich ankleidete und Lucy sich vor dem Spiegel das Haar
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