Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
ein Mensch nur wünschen kann.«
Bei meiner letzten Bemerkung schien sich seine Stirn zu umwölken. »Nein, Fräulein Murray, Sie haben alles, was ein Mensch
sich nur wünschen kann: die einzige wahre Quelle des Glücks auf dieser Welt.«
»Was ist das?«, fragte ich verwundert.
»Sie haben einen Menschen gefunden, mit dem Sie die restlichen Tage Ihres Lebens verbringen möchten.« Er schaute auf, blickte
mir fest in die Augen und fügte mit leiser, dunkler Stimme hinzu: »Ich suche einen solchen Menschen schon … sehr lange.«
Ich vermochte unter seinem intensiven Blick kaum zu atmen. »Eines Tages werden Sie diesen Menschen finden«, brachte ich mühsam
hervor.
»Ja«, antwortete er leise, und seine Augen wichen nicht von meinen. »Das glaube ich auch.«
Unsere Rückfahrt den Fluss hinunter war so heiter und friedlich wie zuvor. Als unsere Wege sich trennten, dankte ich |101| Herrn Wagner mit ernster Miene dafür, dass er diesen Ausflug mit mir gemacht hatte.
»Ich werde heute Abend beim Pavillon sein«, sagte er, während er meine behandschuhte Hand küsste. »Würden Sie sich zu mir
gesellen?«
Ich gab ihm keine Antwort, sondern wandte mich ab und rannte, von Schuldgefühlen übermannt, nach Hause. Unser heutiges Gespräch
hatte mir in Erinnerung gebracht, wie sehr ich Jonathan vermisste. Ich verspürte eine tiefe, schmerzliche Sehnsucht nach ihm.
Eines Tages, ganz bald, hoffte ich, würde ich von ihm hören und zu ihm gehen. Doch wenn ich fortging, wenn ich Whitby verließ,
würde ich Herrn Wagner niemals wiedersehen. Dieser Gedanke trieb mir die Tränen in die Augen. Oh! Was sollte ich nur mit diesen
unrechten Gefühlen anfangen, mit diesen Gefühlen für einen Mann, mit dem ich mich nicht einmal hätte treffen dürfen, den ich
noch viel weniger mein eigen nennen durfte?
Den Rest des Tages konnte ich an nichts anderes denken als an den Abend, der vor mir lag, und daran, dass Herr Wagner mich
am Pavillon erwartete. Immer wieder spukte mir eine Zeile aus dem
Bildnis des Dorian Gray
durch den Kopf. »Der einzige Weg, sich einer Versuchung zu entledigen, ist, ihr nachzugeben. Widerstehen Sie ihr, und Ihre
Seele wird krank vor Sehnsucht nach den Dingen, die sie sich selbst verboten hat.« 1 Während ich mit Lucy und ihrer Mutter dinierte , musste ich mich immer wieder ermahnen, die Lüge aufrechtzuerhalten, die ich ihnen aufgetischt hatte: dass ich den ganzen Tag auf dem Friedhof gesessen und gelesen und geschrieben
hatte.
Frau Westenra spürte offensichtlich meine Verzweiflung, ergriff über den Tisch hinweg meine Hand und drückte sie. Sie sagte:
»Machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe. Sie werden ihn sicher schon bald wiedersehen.«
|102| »Wen?«, erwiderte ich und war einen Augenblick ganz verwirrt, weil ich dachte, sie hätte irgendwie von Herrn Wagner erfahren
und von meinen Plänen, mich mit ihm zu treffen.
»Nun, Jonathan natürlich.«
»O ja, das hoffe ich«, antwortete ich schnell.
Während der gesamten Mahlzeit spürte ich, dass Lucys Augen auf mir ruhten. Aber ich konnte mich nicht überwinden, sie meinerseits
anzuschauen.
Sobald Lucy eingeschlafen war, erhob ich mich und zog mein blaues Abendkleid an. Ich war mit meinen Gedanken so weit weg,
dass ich beinahe vergessen hätte, die Tür zu unserem Zimmer zuzuschließen und den Schlüssel in meinem Handschuh zu verwahren.
Ich eilte mit erwartungsvoll geröteten Wangen in die Nacht hinaus. Sobald ich den Pavillon betreten hatte, suchte ich eifrig
in der Menge. Zunächst erblickte ich keine Spur von ihm, und mein Mut begann zu sinken. Doch dann erschien er wie durch einen
Zauber plötzlich neben mir und bot mir stumm seinen Arm. Unsere Blicke trafen sich. Ich schritt auf die Tanzfläche und sank
in seine Arme. Die Musik hob an, und wieder wurde ich in eine andere Welt fortgetragen.
Stundenlang tanzten wir miteinander. Als wir später draußen spazierten und die Musik durch die Türen zu uns hinauswehte, zog
mich Herr Wagner wieder in seine Arme, und wir setzten den Walzer unter den Sternen fort. Er wirbelte mit mir fort, an eine
Stelle, wo uns die anderen Menschen auf der Terrasse nicht sehen konnten. Dann blieb er stehen und zog mich noch näher an
sich, bis mein Körper seinen berührte und sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt war. Während wir stumm
und erhitzt dort standen und einander in den Armen hielten, begann mein Herz so laut zu pochen, dass ich mir
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