Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
unbesonnen
und impulsiv zu handeln, sich einmal außerhalb der sorgfältig gezirkelten Grenzen des Anstands zu bewegen und ein kleines
Abenteuer zu erleben. Jonathan wird niemals davon erfahren, und schließlich ist es wirklich nur eine Bootsfahrt.
Ich setzte mich ins Heck des Bootes, während Herr Wagner mir gegenüber Platz nahm und ruderte – eine Aufgabe, die ihm anscheinend
ohne jegliche Mühe von der Hand ging. Schon bald hatten wir die Hafenmauer hinter uns gelassen und glitten flussaufwärts.
»Sie rudern dieses Boot, als koste es Sie nicht die geringste Anstrengung, Herr Wagner.«
»Das scheint nur so, weil wir uns mit der Flut bewegen.« Ich streifte einen Handschuh ab und ließ die Hand in das kühle Wasser
herabhängen. Dabei erblickte ich mein verschwommenes Spiegelbild auf der gekräuselten Wasseroberfläche. Aus unerfindlichen
Gründen schien sich Herr Wagner nicht im Wasser zu spiegeln. Wie merkwürdig, überlegte ich. Das muss eine optische Täuschung
sein.
|94| »Ich sehe, dass Sie
Lippincott’s Monthly Magazine
mitgebracht haben«, sagte er, während wir zügig flussaufwärts fuhren. »Ist es die Ausgabe vom Juli?«
»Ja. Wie kommt es, dass Sie
Lippincott’s
kennen
?
«
»Ich habe die neue Londoner Ausgabe abonniert. Das ist eine der vielen englischen Veröffentlichungen, die ich mir schicken
lasse, um Ihre Sprache besser beherrschen zu lernen und mit den neuesten und besten Entwicklungen der Literatur auf dem Laufenden
zu bleiben. Haben Sie in der Februarausgabe die Geschichte von Arthur Conan Doyle gelesen?«
» Das Zeichen der Vier?
Ja! Außerordentlich fesselnd. Diese Ausgabe enthält einen neuen Roman von Oscar Wilde mit dem Titel
Das Bildnis des Dorian Gray
. Er handelt von einem Mann, der den Wunsch äußert, ewig jung zu bleiben. Und dann wird ihm dieser Wunsch erfüllt. Haben Sie
die Geschichte gelesen?«
»Ja. Ich bin zwar von zu Hause aufgebrochen, ehe mein Exemplar eingetroffen war, doch gestern habe ich eines an einem Zeitungsstand
erworben. Hat Ihnen der Roman gefallen?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich fand ihn schockierend, bisweilen wirklich entsetzlich und geschmacklos. Doch trotzdem konnte ich
ihn nicht aus der Hand legen und habe ihn sogar bereits zweimal gelesen!«
Herr Wagner lachte. »Es ist ein interessanter Gedanke, nicht wahr, diese Vorstellung, niemals zu altern? Würde Sie dergleichen
reizen, reich, schön und ewig jung zu sein?«
»Ich glaube, den Wunsch nach ewiger Jugend hat jeder«, gestand ich ihm ein. »Aber letztlich ist es eine faustische, zur Warnung
ausgesprochene Geschichte über Eitelkeit und Frivolität und die Gefahren, die einem drohen, wenn man versucht, die Grundgesetze
von Leben und Tod zu stören. Wenn ich es recht bedenke, möchte ich nicht ewig jung bleiben.«
»Nein? Und warum nicht?«
»Weil ich dann gezwungen wäre, zuzusehen, wie alle Menschen, die ich liebe, alt werden und sterben.«
|95| »Und wenn dem nicht so wäre? Wenn es einen Menschen gäbe, den Sie aus tiefster Seele lieben, mit dem Sie auf immer und ewig
unter den stets gleichen Bedingungen leben könnten?«
»Vielleicht würde es sich dann als angenehm herausstellen, solange ich dafür nicht dem Teufel meine Seele verkaufen müsste.
Aber ehe ich einen Magier treffe, der mich und Jonathan mit dem gleichen Zauber belegen kann, bin ich es zufrieden, wie jeder
andere Sterbliche in Würde zu altern.«
Plötzlich hielt ich inne und wünschte, ich hätte Jonathan nicht erwähnt. Obwohl meine Bemerkung ehrlich gemeint war, so war
es doch gewiss unangemessen, über den eigenen Verlobten zu sprechen, während man mit einem anderen Mann eine Flussfahrt machte.
Herrn Wagner jedoch schien dies nicht peinlich zu sein, und er sagte: »Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie gesagt, dass
Ihr Verlobter geschäftlich unterwegs ist. Haben Sie Nachrichten von ihm?«
»Nein.« Ich runzelte die Stirn. Plötzlich drängten all meine Ängste und Sorgen mit Macht zurück. »Ich erwarte täglich einen
Brief von ihm, aber er hat schon eine ganze Weile nicht geschrieben.«
»Das tut mir leid. Wohin, sagten Sie, ist er gereist?«
»Nach Transsilvanien.«
»Die Gegend kenne ich gut.«
»Wirklich? Wie ist es da?«
»Die Landschaft ist sehr schön. Berge, Wälder und hübsche kleine Städtchen, hier und da eine alte Burg hoch auf einem Felsen.
Aber mir ist es dort viel zu ruhig und abgelegen. Sagen Sie mir, wie war doch gleich der Name Ihres
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