Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Cornwall hinausgekommen,
wohin ich vor vielen Jahren einmal mit Lucy und ihren Eltern gefahren war. Ich hatte immer davon geträumt, mehr von der Welt
zu sehen. Dass ich sie aber unter diesen Umständen sehen sollte, war wirklich schrecklich! Ich wusste, dass ich mir zu viele
Sorgen um Jonathan machen würde, um meiner Umgebung Aufmerksamkeit zu schenken.
Am nächsten Morgen stiegen mir die Tränen in die Augen, als ich mich von Frau Westenra verabschiedete, während ich auf die
Ankunft der Droschke wartete. Ich ängstigte mich, dass ich sie vielleicht zum letzten Mal sehen würde. »Ich bin |113| Ihnen für all Ihre Hilfe unendlich dankbar«, sagte ich und umarmte sie herzlich. »Sie sind immer so gut zu mir gewesen. Ich
werde Sie vermissen.«
»Sie werden viel zu viel zu tun haben, um mich zu vermissen«, erwiderte Frau Westenra mit einem liebevollen Lächeln. »Nun
reisen Sie zu Ihrem zukünftigen Ehemann. Grüßen Sie ihn ganz herzlich von mir.«
Lucy und ich sagten einander am Bahnhof von Whitby Adieu, versprachen einander, oft zu schreiben und alle Neuigkeiten mitzuteilen.
»Pass gut auf dich auf, meine Liebe«, sagte ich, während wir uns zum Abschied umarmten und küssten. »Ich weiß, dass du deiner
Mutter zuliebe so tust, als ginge es dir prächtig, aber versprich mir, dass du einen Arzt rufst, wenn es morgen nicht besser
geworden ist.«
»Ich verspreche es. Grüße Jonathan von mir. Sag ihm, er soll schnell wieder gesund werden.«
»Das mache ich. Gib Arthur einen Kuss von mir. Ich hab dich lieb«, sagte ich, während ich sie noch einmal umarmte, ehe ich
in den Zug stieg.
»Ich hab dich auch lieb«, erwiderte Lucy und warf mir einen Handkuss zu. »Adieu!«
Als ich schon längst meinen Fensterplatz eingenommen hatte, sah ich Lucy immer noch auf dem Bahnsteig stehen, mir hinterherwinken,
lustige Grimassen schneiden und lächeln, bis der Zug aus dem Bahnhof fuhr.
Die North Eastern Railway brachte mich nach Scarborough, wo ich in einen Zug nach Kingston on Hull umstieg. Dort ging ich
an Bord eines Schiffes, das Kurs auf Deutschland nahm. Es war meine erste Seereise, und zunächst fand ich alles sehr aufregend.
Wie fröhlich es doch auf einem Dampfer zugeht, der sich auf große Fahrt vorbereitet! An Deck wimmelte es vor Passagieren,
Männern und Frauen, von denen viele sehr fein gekleidet waren. Ich fand, dass die prächtigen Umgänge, dass die |114| Blumenhüte und dunklen Seidenkleider der Damen allerdings besser für einen Spaziergang im Park oder auf einer Promenade geeignet
schienen als für das Deck eines Frachtdampfers.
Als das Schiff aus dem Hafen auslief, stand ich an der Reling und atmete genüsslich in tiefen Zügen die frische Seeluft ein.
Ich erfreute mich am Anblick der Wogen der Nordsee, der Seevögel auf den Wellenkämmen, der weißen Segel in der dunkleren Ferne
und des ruhigen, wolkenverhangenen Himmels. Sobald wir das offene Meer erreicht hatten, wurde ich jedoch seekrank, und ich
flüchtete mich mit schwankenden Schritten in meine Kabine.
Ich habe mir sagen lassen, dass oben Mahlzeiten gereicht wurden – Mittagessen, Abendessen und Frühstück –, doch war mir dies
gleichgültig. Ich verbrachte die Überfahrt lieber unter Deck. Mir wurde immer unwohler, je weiter der Tag und dann die Nacht
fortschritt und je rauer der Seegang wurde. Mich beunruhigte ein wenig der Gedanke, dass ringsum nichts als Schwärze und Wasser
war, doch verspürte ich die Kraft des Schiffes, wie es diese ungeheuren Tiefen durchpflügte und uns alle mit sich trug. Die
Seereise schien mir endlos, 370 Meilen von einem Hafen zum anderen. Zudem klang mir das Klagen und Stöhnen anderer Passagiere
in den Ohren, und ich meinte ihre inbrünstigen Gebete zu hören, in denen sie darum flehten, sie mögen sicher das andere Ufer
erreichen. Schließlich breitete sich Ruhe um uns aus, und ich vernahm endlich die Worte, die ich so sehr herbeigesehnt hatte:
»Wir sind im Hafen.«
Wir legten in Hamburg an. Vom Rest der Reise ist mir nur sehr wenig in Erinnerung geblieben, außer dass sie lang und ermüdend
war, dass ich unzählige Male von einem Zug in den anderen umsteigen musste und unterwegs viele verschiedene Sprachen hörte.
Ich fand nur wenig Schlaf, konnte kaum je ein paar Stunden Ruhe erhaschen. Ich wollte meine Reise aber nicht für eine Übernachtung
unterbrechen, denn ich war entschlossen, so rasch und mit so wenig Unkosten wie möglich |115| zu Jonathan
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