Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
die sie infolge ihres Berufes zu hören bekommen, müssen sie als heilig respektieren. Doch eines kann
ich Ihnen zu Ihrer Beruhigung eingestehen: Sein Schrecken hat nichts mit einer Untat zu tun, deren er sich zu schämen hätte,
sondern mit großen und schrecklichen Dingen, die er mit ansehen musste und die keine sterbliche Seele zu ertragen vermöchte.
Als er hier ankam, hat ihn unser Arzt für einen Wahnsinnigen gehalten und hätte ihn wohl ohne Zögern in ein Irrenhaus eingewiesen,
hätte ich ihn nicht angefleht, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Ich hatte in Herrn Harkers Augen etwas gesehen
und in seiner Stimme etwas gehört, das mir mitteilte: Dieser Mann ist nicht wahnsinnig, sondern nur krank und |120| vor Angst besessen. Er braucht einen sicheren, ruhigen Ort, an dem er sich erholen kann. Der Doktor kam, dem Himmel sei Dank
dafür, zu einem ähnlichen Schluss, nur dass er diese Krankheit als Nervenfieber bezeichnete. Nach vielen Wochen der Behandlung
ist Herr Harker nun endlich wieder er selbst geworden, oder jedenfalls beinahe er selbst.«
»Beinahe er selbst?«, wiederholte ich bang.
»Er ist noch immer sehr schwach, zu schwach zum Stehen, und leicht erregbar. Sie werden es selbst sehen. Sie müssen sorgfältig
erwägen, was Sie zu ihm sagen.«
Inzwischen waren wir im zweiten Stock angekommen. Unsere Schritte hallten auf dem langen, dunklen Korridor wider.
»Ich lese sehr gern, und eines Tages haben wir uns über englische Literatur unterhalten«, fuhr Schwester Agatha fort. »Er
erwähnte, er hätte während seiner Schulzeit die Werke von Dickens sehr geliebt. Ich wollte ihm einen Gefallen erweisen, lieh
mir eine Ausgabe von
Eine Weihnachtsgeschichte
in englischer Sprache und setzte mich zu ihm, um ihm daraus vorzulesen. Ich kannte die Geschichte nicht, und er besaß keinerlei
Erinnerung daran. Zunächst lauschte er ruhig, bis wir zu der Stelle kamen, die einen Türklopfer, eine Lokomotive und ein lautes
Glockenläuten und was sonst noch alles beinhaltet. Da wurde er zunehmend aufgeregt. Als dann rasselnde Ketten erwähnt wurden
und ein Geist, der durch eine Tür trat, da riss mir Herr Harker das Buch aus den Händen, schleuderte es quer durchs Zimmer
und schrie: ›Genug! Ich kann es nicht mehr ertragen! Bitte werfen Sie dieses furchtbare Buch fort!‹«
Wieder bekreuzigte sich Schwester Agatha und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Es war mein Fehler. Ich hatte ihn ja
all die Wochen lang endlos von Geistern und Dämonen phantasieren hören. Hätte ich gewusst, worum es in diesem Buch geht, ich
hätte ihm niemals daraus vorgelesen.« Sie blieb vor einer verschlossenen Tür stehen und seufzte schwer. »Ich |121| nehme an, es ist viele Monate her, dass Sie ihn zuletzt gesehen haben?«
»Ja.«
»Dann sollten Sie sich auf einen Schock vorbereiten, Fräulein. Wir haben ihm seit seiner Ankunft kein Rasiermesser in die
Hand gegeben, heute Morgen hat er jedoch darauf bestanden, dass wir ihn in Vorbereitung auf Ihre Ankunft rasieren. Trotzdem
könnte es sein, dass Sie ihn sehr verändert vorfinden.«
Ein banges Gefühl beschlich mich, doch ich kämpfte dagegen an und versuchte nach Kräften, mich auf das vorzubereiten, was
mich hinter der Tür erwartete. Er ist hier, rief ich mir ins Gedächtnis. Er lebt und ist in Sicherheit, und du liebst ihn.
Schwester Agatha öffnete die Tür, und ich trat vor ihr ins Zimmer. Sofort flogen meine Augen zum Bett und zu dem Mann, der
darin unter einer grauen Decke lag und schlief. Mir stockte der Atem, und Tränen schossen mir in die Augen. Zweifellos war
es Jonathan. Doch Schwester Agathe hatte recht. Oh, wie verändert er doch war! Sein hellbraunes Haar, das er immer so sorgfältig
geschnitten und gekämmt trug, hing ihm nun in langen, wirren Locken um die Ohren und in die Stirn. Sein Gesicht, einst so
rosig, pausbäckig und angenehm anzusehen, war nun ausgemergelt und gespenstisch bleich.
»Herr Harker?«, rief Schwester Agatha leise. »Fräulein Murray ist hier.«
Jonathan schlug die Augen auf. Als er mich erblickte, breitete sich ein schwaches Lächeln über seine verwüsteten Züge, und
er flüsterte: »Mina? Mina … Dank sei Gott, dass du gekommen bist.«
Er streckte seine magere Hand zu mir hin. Ich ergriff sie und küsste sie mit schwerem Herzen, während mir die Tränen über
die Wangen rannen. »Liebster Jonathan. Wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich habe mich so um dich
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