Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
zurückkehrten. In allen Fällen waren die Kinder zu klein, um wirklich zuverlässige
Gründe angeben zu können, aber in einem stimmen alle ihre Entschuldigungen überein, dass sie nämlich mit einer "Schönen Dame"
zusammengewesen wären. Es war immer spät abends, als man sie |201| vermisste, und in zwei Fällen sind die Kinder erst früh am nächsten Morgen gefunden worden.
Der Artikel berichtete dann noch ausführlich von einer sehr ernsten Seite dieses Rätsels. Alle Kinder, die man fand, waren
leicht an der Kehle verletzt. Die Wunden sahen aus, als stammten sie vom Biss einer Ratte oder eines kleinen Hundes.
»Oh!«, rief ich entsetzt auf. »Die Wunden am Hals! Waren sie das Werk des Grafen Dracula?«
»So scheint es. Und doch behaupten die Kinder alle, eine ›schöne Dame‹ getroffen zu haben, wie sie das erste wieder aufgefundene
Kind genannt hat, was immer das auch bedeuten mag.«
Jonathan nickte. Dann huschte ein seltsamer Ausdruck über sein Antlitz. »Hampstead Heath? Ist das nicht bei Hillingham House,
wo Lucy und ihre Mutter gewohnt haben? Und hat nicht Dr. van Helsing berichtet, dass Lucy auf einem Friedhof bei der Heide
von Hampstead begraben liegt?«
Unfassbares Entsetzen überkam mich, denn ich begriff sofort, worauf Jonathan hinauswollte. Lucy war – anscheinend viele Male
– von einem Vampir gebissen worden, ehe sie gestorben war. Ich wusste so gut wie gar nichts über derlei Geschöpfe. Bis vor
kurzem hatte ich nicht einmal geglaubt, dass sie überhaupt existierten. War meine liebe Freundin Lucy etwa nun selbst zum
Vampir geworden?
War sie aus dem Grabe auferstanden?
Während der nächsten drei Tage hörten wir nichts von Dr. van Helsing. Weiterhin erschienen beängstigende Berichte in der
Westminster Gazette
. Man hatte ein furchtbar geschwächtes Kind gefunden, das darauf bestanden hatte, auf die Heide zurückzugehen, um weiter mit
der wunderschönen Dame zu spielen. Die ganze Nacht hindurch warf ich mich auf meinem Lager hin und her und dachte an die arme
Lucy, zu entsetzt, um schlafen zu können.
|202| Begierig auf weitere Neuigkeiten, beschloss ich, nach London zu fahren und Dr. van Helsing zu besuchen. Zur gleichen Zeit
reiste Jonathan nach Whitby. Er hatte auf sein Schreiben an Herrn Billington, den Spediteur, der die fünfzig Kisten Erde von
der
Demeter
in Empfang genommen hatte, eine höfliche Antwort erhalten, und erachtete es für das Beste, in Whitby an Ort und Stelle die
nötigen Nachforschungen anzustellen.
»Ich begreife nicht recht, warum du unbedingt nach Whitby reisen musst«, erwiderte ich. »Wir wissen doch, dass der Graf ein
Haus in Purfleet besitzt. Warum fahren wir nicht dorthin und ergreifen ihn?«
»Wir können nicht sicher sein, dass er tatsächlich in Purfleet ist. Vielleicht hat er inzwischen noch andere Anwesen. Wir
müssen herausfinden, was mit jeder einzelnen dieser Kisten geschehen ist, wenn wir den Teufel in seinem Versteck erwischen
wollen. Lass mich wissen, wo du in London absteigst, Mina, dann geselle ich mich in ein, zwei Tagen zu dir.«
Ich schickte ein Telegramm an Dr. van Helsing ins Berkeley Hotel, in dem ich ihm meine bevorstehende Ankunft mitteilte. Als
ich gerade damit fertig war, meine Taschen zu packen und meine Schreibmaschine in ihrem Tragekoffer zu verstauen, traf ein
Brief für mich ein. Ich glaubte, er wäre von Dr. van Helsing. Doch zu meiner Überraschung kam er vom Leiter des Waisenhauses
in London, in dem ich aufgewachsen war. Er hatte nur eine kurze Notiz beigefügt, in der er erklärte, man hätte den Umschlag
gefunden, von dem ich ihm erzählt hatte, und er übersende ihn mir hiermit.
Wie benommen starrte ich auf den Umschlag, der dem Schreiben beilag. Er war aus billigem Papier und an den Ecken schon ein
wenig vergilbt. Eine ungelenke Hand hatte ihn mit Bleistift adressiert: »Fräulein Wilhelmina Murray: Nicht zu öffnen, ehe
sie 18 Jahre alt ist.«
War es der Brief meiner Mutter?
Ich holte den Brieföffner vom Schreibtisch meines Gatten. Mit zitternden Händen führte ich ihn vorsichtig unter die |203| brüchige Umschlagklappe und versuchte, beim Öffnen so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Ich zog die beiden gefalteten
Blätter Schreibpapier aus dem Umschlag hervor. Sie waren ebenfalls mit Bleistift beschrieben. Außerdem lag noch ein winziges,
verblichenes und verknittertes Stückchen rosa Band im Umschlag. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich die
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