Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Gegenstände
anstarrte, die mir so kostbar erschienen wie der Heilige Gral. Ich sank auf einen Stuhl und las.
5. Mai 1875
Meine geliebte Tochter!
Jetzt muss ich schon an die hundert Mal an dem Waisenhaus vorübergegangen sein, seit ich dich dort abgegeben habe. Ich habe
stets gehofft, einen Blick auf dich erhaschen zu können, aber sie haben die Kinder nie nach draußen gebracht, und ich hatte
Angst, hineinzugehen. Einmal, vor wenigen Monaten, dachte ich, ich hätte dich gesehen, wie du mit den anderen Kindern in die
Schule gegangen bist. Aber ich konnte nicht sicher sein, dass du es wirklich warst, denn du bist ja jetzt ein großes Mädchen
von sieben Jahren. Und siehst so anders aus als damals, als ich dich auf dem Arm hielt. Vielleicht bist du schon lange irgendwo
bei einer guten Familie. Ich hoffe es sehr, denn das war mein Wunsch und mein Traum.
Wilhelmina, mein liebes Mädchen, ich denke jeden Tag an dich. Ich überlege, wie es dir geht und wie du aussiehst, ob du glücklich
bist und ob du jemals an mich denkst. Nachts träume ich davon, was ich dir sagen würde, wenn wir uns träfen. Doch ich weiß,
das darf niemals geschehen. Mein Leben ist sehr hart, und ich könnte es nicht ertragen, die Scham in deinen Augen zu sehen,
wenn du mich anschaust und weißt, dass ich deine Mutter bin.
Heute schreibe ich dir, weil ich krank bin. Der Arzt sagt, dass ich nicht mehr sehr lange zu leben habe. Ich will diese Erde
nicht verlassen, ohne dir zu sagen, wie sehr ich dich geliebt habe und wie sehr ich mich bemüht habe, dich zu behalten. |204| Ich habe deinen Vater geliebt. Er hieß Cuthbert. Ich glaube, er hat mich wirklich eine Zeitlang ebenso geliebt. Ich war damals
Hausmädchen in Marlborough Gardens, Belgravia. Die beiden Jahre dort waren die glücklichsten meines Lebens. Mir war klar,
dass ich das Haus verlassen musste. Ich habe mein Bestes für dich getan, solange ich konnte. Aber ich konnte nur sehr schwer
Arbeit finden. Du brauchtest Essen, Arznei und Kleidung. Und ich hatte dir nur Liebe zu geben.
Das Bändchen, das ich immer aufbewahrt habe, ist aus deinem Mützchen. Ich dachte mir, dass du es vielleicht eines Tages gern
haben würdest. Ich hoffe, sie händigen dir diesen Brief aus, wenn du erwachsen und alt genug bist, um dies alles zu verstehen.
Bitte denke nicht zu schlecht von mir, Wilhelmina. Ich werde dich immer von ganzem Herzen lieben.
Deine Mutter
Anna
Die Gefühle überwältigten mich, während ich las. Schon allein die Anrede –
Meine geliebte Tochter
– machte mir die Augen so tränenblind, dass ich kaum weiterlesen konnte. Lange nach der letzten Zeile rollten mir noch Tränen
über die Wangen.
Deine Mutter Anna
. So hieß sie also, meine Mutter: Anna! Was für ein wunderschöner Name! Und welch kostbare Neuigkeit! Ein Wirbel von Gedanken
und Gefühlen wühlte mich auf! Zunächst ergriff mich tiefe Trauer darüber, dass sie nicht mehr lebte. Und dann kamen die Fragen:
Wie war ihr Familienname? Wie alt war sie? Woher stammte sie? Und was war mit meinem Vater? Wer war er? War er auch Bediensteter
in diesem feinen Haus gewesen? Oder hatten sie sich an einem anderen Ort kennengelernt?
Mein Leben lang hatte ich mich geschämt, wenn ich daran dachte, dass mich meine Mutter unehelich geboren hatte. Nun war die
Schande ein wenig gemildert, denn jetzt wusste ich, dass ich zumindest nicht das Resultat eines einzigen schnellen, lüsternen,
rasch vergessenen Augenblicks war, |205| sondern ein Kind der Liebe, der wahren Liebe. Lange saß ich da und weinte um meine Mutter, die mich geliebt hatte, um die
Mutter, die ich niemals kennen würde.
Ich habe diesen Brief im Zug nach London vielleicht ein Dutzend Mal wiedergelesen, hielt das winzige, brüchige Stückchen Band
in den Händen, während ich mir die Tränen abwischte. Endlich fühlte ich mich stark genug, um den Umschlag wegzulegen und meine
Gedanken anderen Dingen zuzuwenden. Zu meiner großen Überraschung wurde mir unterwegs ein Telegramm überreicht.
29. SEPTEMBER 1890
FRAU MINA HARKER. VAN HELSING NACH AMSTERDAM ZURÜCKGERUFEN. TREFFE SIE AM BAHNHOF.
DR. JOHN SEWARD
Als ich in Paddington ankam, hielt ich in der geschäftigen Menge nach Dr. Seward Ausschau und hoffte, es würde mir gelingen,
ihn auf dem Bahnsteig zu finden, obwohl wir einander noch nie gesehen hatten. Als sich die Menschenmenge verlief, bemerkte
ich einen hochgewachsenen, attraktiven Mann mit
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