Dracula, my love
Wochen der Behandlung ist Herr Harker nun endlich wieder er selbst geworden, oder jedenfalls beinahe er selbst.“
„Beinahe er selbst?“, wiederholte ich bang.
„Er ist noch immer sehr schwach, zu schwach zum Stehen, und leicht erregbar. Sie werden es selbst sehen. Sie müssen sorgfältig erwägen, was Sie zu ihm sagen.“
Inzwischen waren wir im zweiten Stock angekommen. Unsere Schritte hallten auf dem langen, dunklen Korridor wider.
„Ich lese sehr gern, und eines Tages haben wir uns über englische Literatur unterhalten“, fuhr Schwester Agatha fort. „Er erwähnte, er hätte während seiner Schulzeit die Werke von Dickens sehr geliebt. Ich wollte ihm einen Gefallen erweisen, lieh mir eine Ausgabe von Eine Weihnachtsgeschichte in englischer Sprache und setzte mich zu ihm, um ihm daraus vorzulesen. Ich kannte die Geschichte nicht, und er besaß keinerlei Erinnerung daran. Zunächst lauschte er ruhig, bis wir zu der Stelle kamen, die einen Türklopfer, eine Lokomotive und ein lautes Glockenläuten und was sonst noch alles beinhaltet. Da wurde er zunehmend aufgeregt. Als dann rasselnde Ketten erwähnt wurden und ein Geist, der durch eine Tür trat, da riss mir Herr Harker das Buch aus den Händen, schleuderte es quer durchs Zimmer und schrie: ›Genug! Ich kann es nicht mehr ertragen! Bitte werfen Sie dieses furchtbare Buch fort!‹“
Wieder bekreuzigte sich Schwester Agatha und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Es war mein Fehler. Ich hatte ihn ja all die Wochen lang endlos von Geistern und Dämonen phantasieren hören. Hätte ich gewusst, worum es in diesem Buch geht, ich hätte ihm niemals daraus vorgelesen.“ Sie blieb vor einer verschlossenen Tür stehen und seufzte schwer. „Ich nehme an, es ist viele Monate her, dass Sie ihn zuletzt gesehen haben?“
„Ja.“
„Dann sollten Sie sich auf einen Schock vorbereiten, Fräulein. Wir haben ihm seit seiner Ankunft kein Rasiermesser in die Hand gegeben, heute Morgen hat er jedoch darauf bestanden, dass wir ihn in Vorbereitung auf Ihre Ankunft rasieren. Trotzdem könnte es sein, dass Sie ihn sehr verändert vorfinden.“
Ein banges Gefühl beschlich mich, doch ich kämpfte dagegen an und versuchte nach Kräften, mich auf das vorzubereiten, was mich hinter der Tür erwartete. Er ist hier, rief ich mir ins Gedächtnis. Er lebt und ist in Sicherheit, und du liebst ihn.
Schwester Agatha öffnete die Tür, und ich trat vor ihr ins Zimmer. Sofort flogen meine Augen zum Bett und zu dem Mann, der darin unter einer grauen Decke lag und schlief. Mir stockte der Atem, und Tränen schossen mir in die Augen. Zweifellos war es Jonathan. Doch Schwester Agathe hatte recht. Oh, wie verändert er doch war! Sein hellbraunes Haar, das er immer so sorgfältig geschnitten und gekämmt trug, hing ihm nun in langen, wirren Locken um die Ohren und in die Stirn. Sein Gesicht, einst so rosig, pausbäckig und angenehm anzusehen, war nun ausgemergelt und gespenstisch bleich.
„Herr Harker?“, rief Schwester Agatha leise. „Fräulein Murray ist hier.“
Jonathan schlug die Augen auf. Als er mich erblickte, breitete sich ein schwaches Lächeln über seine verwüsteten Züge, und er flüsterte: „Mina? Mina ... Dank sei Gott, dass du gekommen bist.“
Er streckte seine magere Hand zu mir hin. Ich ergriff sie und küsste sie mit schwerem Herzen, während mir die Tränen über die Wangen rannen. „Liebster Jonathan. Wie froh ich bin, dich zu sehen. Ich habe mich so um dich gesorgt.“
„Sorge dich nicht mehr, meine Liebste“, erwiderte er mit stiller Zuneigung. „Ich bin auf dem Wege der Besserung und werde nun, da du gekommen bist, sicher noch schnellere Fortschritte machen.“ In seiner Stimme schwang wenig Überzeugung mit, und aus seinen lieben Augen war all seine Entschlossenheit geschwunden. All die ruhige Würde, die ich stets an ihm so bewundert hatte, war völlig dahin. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.
„Ich lasse Sie beide jetzt ein paar Minuten allein“, sagte Schwester Agatha, nachdem sie Jonathan geholfen hatte, sich im Bett aufzusetzen, und ihm den Rücken mit Kissen gestützt hatte. „Ich sitze draußen gleich bei der Tür, falls Sie mich brauchen sollten.“
Nachdem sie den Raum verlassen (und die Tür leicht angelehnt gelassen) hatte, zog ich einen Stuhl ans Bett und nahm Jonathans Hand in meine. Ich wollte ihn so vieles fragen, aber er sah so müde und zerbrechlich aus, dass ich fürchtete, irgendetwas zu sagen, das ihn um seine
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