Dracula, my love
geglaubt, inzwischen jedoch wahrscheinlich schon, nachdem ich von den Arbeiten des Jean-Martin Charcot gelesen habe.“
„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Charcots Berichte sind wirklich faszinierend. Er hat bewiesen, dass er in der tiefsten Seele derer lesen kann, die seinem Einfluss unterworfen sind.“
„Dann sind Sie also überzeugt, dass Hypnotismus möglich ist, eine überprüfbare wissenschaftliche Tatsache?“ Wir nickten beide, und Dr. van Helsing fuhr fort: „Daraus, denke ich, müssten Sie also auch ableiten, dass es Gedankenübertragung gibt?“
„Ich bin mir nicht sicher“, sagte Jonathan.
„Und wie steht es mit Doppelgängerei? Oder Materialisation?“
„Sehen Sie, Herr Doktor“, antwortete Jonathan mit gerunzelter Stirn, „Sie haben mir bestätigt, dass alles, was mir in Transsilvanien zugestoßen ist, auf der Wahrheit beruht. Es ist mir eine Zentnerlast von der Seele gefallen, nun da ich weiß, dass ich nicht alles in einem Anfall von Irresein heraufbeschworen habe. Ich verstehe jedoch noch immer nicht, wie all dies möglich gewesen sein soll. Genauso wenig begreife ich, worauf Sie hinauswollen.“
„Das liegt daran, dass Sie wie ein Advokat denken, junger Freund. Ihnen geht es nur um sogenannte Tatsachen. Nur wenn Sie etwas verstehen können, dann existiert es. Ich sage Ihnen, es gibt Dinge, die Sie nicht verstehen können und die trotzdem existieren. Galileo hatte die Wahrheit über Himmel und Erde begriffen und wurde deswegen der Ketzerei für schuldig befunden. Lassen Sie sich sagen, die Wissenschaft vollbringt heute auf dem Gebiet der Elektrizität Dinge, die von den Erfindern der Elektrizität selbst als Gotteslästerung verdammt worden wären, für welche man vor nicht allzu langer Zeit als Hexenmeister den Scheiterhaufen hätte besteigen müssen! Kennen Sie alle Geheimnisse um Leben und Tod? Können Sie mir sagen, wie es die indischen Fakire machen, dass sie sterben und begraben werden, dass man ihr Grab versiegelt und Getreide darauf sät, viele Generationen hindurch immer wieder, und wenn dann Leute kommen und den Sarg ausgraben und das unverletzte Siegel abnehmen, der indische Fakir daliegt, keineswegs tot, sondern aufsteht und wieder unter ihnen wandelt wie zuvor?“
„Das entzieht sich jeglicher Erklärung, Herr Doktor“, antwortete Jonathan, „wenn es denn wirklich geschehen ist.“
„Oh, es ist geschehen! Es wurde unzählige Male verifiziert.“ Dr. van Helsing setzte seine Kaffeetasse ab und schaute uns über den Tisch hinweg mit strahlenden Augen an. „Frau Mina, wie würden Sie den Glauben definieren?“
„Glauben? Ich habe einmal gehört, der Glaube sei das, was uns befähigt, Dinge für wahr zu halten, von denen wir wissen, dass sie unwahr sind.“
„Ja, gnädige Frau, genau! Für das, was ich Ihnen nun erzählen werde, müssen Sie beide diese Art von Glauben besitzen. Wussten Sie, dass Menschen zu allen Zeiten und in allen Erdteilen glaubten, dass es Einzelne gibt, die immer weiterleben? Dass Männer und Frauen existieren, die nicht sterben können?“
„Ich habe von derlei Aberglauben gelesen“, erwiderte ich zögernd.
„Ist es denn ein Aberglaube?“, erwiderte Dr. van Helsing. „Ich gebe zu, dass auch ich skeptisch war. Ich habe die Lehren und Aufzeichnungen der Vergangenheit studiert, die Theorien und Beweise Vorbringen. Aber ich konnte nicht alles glauben, was ich las. Nicht, bis ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. Wir stehen vor einem großen Rätsel, einem Mysterium, ja? Wir haben noch so viel zu lernen und zu entdecken. Einen Teil davon haben Sie ja in Transsilvanien selbst erlebt, Herr Harker. Und Sie, Frau Mina, haben einen anderen Teil in Whitby beobachtet. Und Dr. Seward und ich haben in Fräulein Lucy, in ihrer Krankheit und ihrem Tod ein weiteres Zeugnis gefunden.“
„In Lucy?“, fragte ich verwirrt.
„Was hat Lucys Tod mit dem zu tun, was mir in Transsilvanien widerfahren ist?“, wollte Jonathan wissen.
„Ungeheuer viel. Ich glaube, Sie kennen die Antwort. Sie sind beide mit den Volkssagen Osteuropas vertraut, nicht wahr? Sie nehmen auf den Seiten Ihres Tagebuchs Bezug darauf, Herr Harker, aber der Gedanke hat Sie so verstört, dass Sie ihn vergessen haben. Und Sie, Frau Mina, Sie haben beobachtet, wie Fräulein Lucy durch Blutverlust bleich und schwach wurde. Sie bemerkten zwei winzige rote Wunden an ihrem Hals - Male, die auch Dr. Seward und mich mit Bestürzung erfüllten, als wir sie wenige Tage vor ihrem Tod
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