Dracula, my love
mich für einen Irren.“
„Weit gefehlt. Was ich denke, Jonathan, ist, dass dein Geist und deine Seele vollkommen gesund sind, noch dazu bist du ein sehr tapferer Mann. Und Dr. van Helsing glaubt das auch.“
„Dr. van Helsing? Willst du damit sagen, du hast ihm von meinem Tagebuch erzählt?“
„Ich habe ihm nicht nur davon erzählt. Ich habe es mit der Maschine ins Reine geschrieben und ihm zusammen mit meinem eigenen Tagebuch zum Lesen gegeben. Sieh nur! Hier ist der Brief, den Dr. van Helsing mir heute Abend geschickt hat. Er sagt, dass alles wahr ist!“
Völlig verdattert nahm Jonathan den Brief des braven Doktors, und seine Augen weiteten sich bei der Lektüre vor Erstaunen. Dann las er ihn ein zweites Mal, als sei er nicht in der Lage, das darin Mitgeteilte aufzunehmen, und murmelte verblüfft: „Es ist wahr ... alles wahr.“ Mit einem Schrei des Triumphes sprang Jonathan so rasch auf, dass sein Stuhl krachend zu Boden fiel. „Mein Gott! Das ist unglaublich! Du machst dir keine Vorstellung, was mir das bedeutet.“
Erregt lief er im Zimmer auf und ab. Den Brief hielt er noch fest umklammert. „Was mich so sehr mitgenommen hat, war der schreckliche Zweifel, Mina. Der schreckliche Zweifel an der Wirklichkeit des Erlebten. Ich fühlte mich vollkommen machtlos und tappte im Dunkeln. Ich wusste nicht, auf wen oder was ich vertrauen konnte, nicht einmal den Dingen konnte ich trauen, die ich mit meinen eigenen Sinnen wahrgenommen hatte. Also versuchte ich, das alles hinter mir zu lassen, mich in meine Arbeit zu stürzen und in meinem vertrauten Leben wieder Fuß zu fassen. Aber all das half mir nicht weiter, denn nun misstraute ich mir selbst.“
„Ich verstehe, Liebster.“
„Nein, das kannst du unmöglich verstehen. Du ahnst ja nicht, was es heißt, an allem, sogar an sich selbst zu zweifeln.“ Bei diesen Worten zog er mich vom Stuhl hoch und umarmte mich innig. „Oh! Mina, Mina, ich danke dir für all dies. Mir ist, als wäre ich ein neuer Mensch geworden. Ich war krank, aber die Krankheit war nichts als mein eigener Selbstzweifel. Jetzt bin ich geheilt, und das verdanke ich dir!“
Wieder umarmten wir einander lachend. Seit dem Tag seiner Abreise vor so vielen Monaten hatte ich Jonathan nicht so glücklich und selbstbewusst gesehen. Schon bald verebbte jedoch unsere übermütige Stimmung, denn wir begannen zu ahnen, was uns nun bevorstand.
„Wenn all das auf der Wahrheit beruht“, sagte Jonathan, während er in zunehmendem Schrecken den Kopf schüttelte, „was für einem Geschöpf habe ich dann in meiner Unwissenheit geholfen, nach London umzuziehen?“
9
Am nächsten Morgen holte Jonathan Dr. van Helsing von seinem Hotel ab. Als die beiden in unserem Haus ankamen, waren sie so ins Gespräch vertieft, dass niemand geglaubt hätte, dass sie einander gerade erst kennengelernt hatten. Sie schienen schon seit Jahren befreundet zu sein.
„Sie meinen also, dass ich am Piccadilly tatsächlich Graf Dracula gesehen habe?“, fragte Jonathan, als wir drei am Esstisch saßen und uns Rührei und Räucherhering schmecken ließen.
„Höchstwahrscheinlich“, antwortete Dr. van Helsing.
„Aber wenn er es war, dann ist er jünger geworden! Wie ist das möglich? Und was ist mit all den anderen Dingen, die ich in der Burg gesehen habe? Wie kann dergleichen möglich sein?“
„Es gibt keine einfache Antwort auf diese Fragen, Herr Harker. Ich habe die Aufzeichnungen gelesen, die Sie und Ihre Frau so aufrichtig und detailliert gemacht haben. Sie sind helle Köpfe und haben einen klaren Verstand. Ich muss Sie etwas fragen: Haben Sie nach allem, was Sie gesehen und erfahren haben, eine Vorstellung, ja auch nur einen Verdacht, mit welcher Art von Geschöpf wir es hier zu tun haben?“
Jonathan schaute mich kurz an und schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht, Herr Doktor.“
„Als ich Jonathans Tagebuch las, da dachte ich, da habe ich mich gefragt ...“, hob ich an. Dann zögerte ich und errötete.
„Was haben Sie sich gefragt, Frau Mina?“
„Nichts. Es ist zu weit hergeholt, zu lächerlich.“
„Ach“, antwortete Dr. van Helsing mit einem Seufzer, „es ist der Fehler unserer Wissenschaft, dass sie alles zu erklären wünscht. Deswegen reagieren Sie so. Und doch sehen wir jeden Tag um uns herum Ideen auftauchen, die sich selbst für neu halten, aber uralt sind. Sagen Sie mir, glauben Sie an Hypnotismus?“
„Hypnotismus?“, sinnierte Jonathan laut. „Früher habe ich nicht daran
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