Dracula, my love
zukünftiges Besitztum lag, einer bei Exeter und einer bei Whitby an der Küste von Yorkshire. Der Graf stellte mir unzählige Fragen darüber, welche Formalitäten man zu erledigen hätte, wenn man eine Fracht mit dem Schiff in eine englische Hafenstadt befördern möchte.“
„Er hat seine Ankunft sehr sorgfältig vorbereitet“, merkte Dr. van Helsing an.
„Aber wenn sein Reiseziel London war“, warf ich ein, „wäre es da nicht einfacher gewesen, gleich dorthin zu reisen oder zu einem anderen, größeren Hafen im Süden? Warum nach Whitby fahren?“
„Ja, warum, in der Tat?“, erwiderte Dr. van Helsing mit gerunzelter Stirn. „Es erscheint mir nicht sinnvoll, dass der Graf nach Whitby gereist ist. Aber er ist dorthin gefahren, zum großen Unglück für das arme Fräulein Lucy. Denn dort, glaube ich, hat er sie das erste Mal getroffen, als sie eines Nachts auf den Klippen schlafwandelte. Sobald sie wieder nach London zurückgekehrt war, hat er sie offensichtlich auch dort gefunden, sei es zufällig oder mit Absicht.“
Plötzlich überkam mich ein abgrundtiefer Hass auf jenen Mann, der meine liebste Freundin auf so schreckliche Weise überfallen und meinen Ehegatten so grausam gequält hatte. Und doch konnte ich nicht umhin zu fragen: „Wissen wir mit Sicherheit, dass wirklich Graf Dracula Lucy in London überfallen hat? London ist eine ungeheuer große Stadt. Könnte es dort nicht auch andere Wesen seiner Art geben?“
„Alles ist möglich, Frau Mina. Doch in jahrelangen Studien habe ich entdeckt, dass es von diesen Geschöpfen nur wenige gibt und dass sie zumeist auf ihr eigenes Heimatland beschränkt bleiben. In der jüngeren Vergangenheit hat die Geschichtsschreibung in England nichts von derlei Wesen berichtet. Sie erinnern sich, das Reisen ist für einen Vampir nicht so leicht. Der Graf musste viele Kisten mit Erde aus Transsilvanien verschiffen. Und warum? Um seine weitere Existenz in England abzusichern. Denn ohne seine Heimaterde, in der er jeden Tag ruhen kann, verlöre er seine Kräfte und würde mit der Zeit vergehen.“
„So könnte man ihn dann besiegen, nicht wahr?“, fragte ich. „Indem man ihm den Zugang zu seinen Kisten mit Erde verwehrt?“
„Ja! Oder indem man diese Erde mit Hilfe geweihter Gegenstände reinigt und dadurch jene Kisten für ihn nutzlos macht.“
„Ich frage mich, wohin all diese Kisten gebracht wurden, nachdem sie in Whitby angekommen waren?“, überlegte Jonathan laut. „Sind sie vielleicht noch dort? Hat man sie zum Wohnsitz des Grafen in London geschafft? Oder hat er sie an alle auf der Karte markierten Orte verteilt?“
„Ich würde auch viel darum geben, das zu wissen“, erwiderte Dr. van Helsing. „Um dieses Rätsel zu lösen, müssen wir sämtliche fünfzig Kisten finden. Wenn wir sie haben, haben wir auch den Grafen.“
Inzwischen hatten wir unser Frühstück beendet. Dr. van Helsing wischte sich den Mund mit der Serviette und betrachtete uns mit strahlendem Lächeln. „Oh! Wie kann ich Ihnen nur danken? Als ich ankam, tappte ich völlig im Dunkeln, suchte die Ursache für Fräulein Lucys verwirrende Krankheit. Durch Sie und Ihre Tagebücher habe ich viel gelernt: den Namen unseres ausländischen Feindes, wie er in unser Land gelangt ist, sogar den Ort, an dem er sich vielleicht versteckt hält!“
„Carfax“, erwiderte Jonathan mit einem Kopfnicken.
„Ich muss sagen, als ich Ihr Tagebuch las, Herr Harker, da staunte ich, dass unser Gegner ausgerechnet im Dorf Purfleet einen Besitz erworben hat, wo Dr. Seward selbst auch wohnt! Wo steht dieses alte Haus, das sich Carfax nennt? Liegt es in der Nähe von Dr. Sewards Irrenhaus?“
„Ja, in unmittelbarer Nähe. Beides sind große Anwesen, die aneinander angrenzen.“
„Angrenzen! Das scheint mir ein außerordentlicher Zufall zu sein!“
„Eigentlich nicht, Herr Doktor. Ich war der Sachwalter, der diesen Kauf vorbereitete, und Dr. Seward hat mir seinerzeit das Anwesen vorgeschlagen.“
„Dr. Seward?“
„Ja. Da ich mit Liegenschaften in London wenig vertraut war, wandte ich mich mit der Bitte um Hilfe an alle erdenklichen Bekannten in der Stadt. Lucy brachte mich mit Dr. Seward in Verbindung. Ich kenne ihn nur aus unserer Korrespondenz. Er weilte nicht in der Stadt, als ich mir im Februar das Anwesen genauer ansah. Doch er schrieb mir, dass es ein altes Haus mit einer angebauten Kapelle sei, gleich neben seinem Irrenasyl gelegen, und dass es den Anforderungen meines Mandanten sehr
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