Dracula, my love
die nötigen Nachforschungen anzustellen.
„Ich begreife nicht recht, warum du unbedingt nach Whitby reisen musst“, erwiderte ich. „Wir wissen doch, dass der Graf ein Haus in Purfleet besitzt. Warum fahren wir nicht dorthin und ergreifen ihn?“
„Wir können nicht sicher sein, dass er tatsächlich in Purfleet ist. Vielleicht hat er inzwischen noch andere Anwesen. Wir müssen herausfinden, was mit jeder einzelnen dieser Kisten geschehen ist, wenn wir den Teufel in seinem Versteck erwischen wollen. Lass mich wissen, wo du in London absteigst, Mina, dann geselle ich mich in ein, zwei Tagen zu dir.“
Ich schickte ein Telegramm an Dr. van Helsing ins Berkeley Hotel, in dem ich ihm meine bevorstehende Ankunft mitteilte. Als ich gerade damit fertig war, meine Taschen zu packen und meine Schreibmaschine in ihrem Tragekoffer zu verstauen, traf ein Brief für mich ein. Ich glaubte, er wäre von Dr. van Helsing. Doch zu meiner Überraschung kam er vom Leiter des Waisenhauses in London, in dem ich aufgewachsen war. Er hatte nur eine kurze Notiz beigefügt, in der er erklärte, man hätte den Umschlag gefunden, von dem ich ihm erzählt hatte, und er übersende ihn mir hiermit.
Wie benommen starrte ich auf den Umschlag, der dem Schreiben beilag. Er war aus billigem Papier und an den Ecken schon ein wenig vergilbt. Eine ungelenke Hand hatte ihn mit Bleistift adressiert: „Fräulein Wilhelmina Murray: Nicht zu öffnen, ehe sie 18 Jahre alt ist.“
War es der Brief meiner Mutter?
Ich holte den Brieföffner vom Schreibtisch meines Gatten. Mit zitternden Händen führte ich ihn vorsichtig unter die brüchige Umschlagklappe und versuchte, beim Öffnen so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Ich zog die beiden gefalteten Blätter Schreibpapier aus dem Umschlag hervor. Sie waren ebenfalls mit Bleistift beschrieben. Außerdem lag noch ein winziges, verblichenes und verknittertes Stückchen rosa Band im Umschlag. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich die Gegenstände anstarrte, die mir so kostbar erschienen wie der Heilige Gral. Ich sank auf einen Stuhl und las.
5. Mai 1875
Meine geliebte Tochter!
Jetzt muss ich schon an die hundert Mal an dem Waisenhaus vorübergegangen sein, seit ich dich dort abgegeben habe. Ich habe stets gehofft, einen Blick auf dich erhaschen zu können, aber sie haben die Kinder nie nach draußen gebracht, und ich hatte Angst, hineinzugehen. Einmal, vor wenigen Monaten, dachte ich, ich hätte dich gesehen, wie du mit den anderen Kindern in die Schule gegangen bist. Aber ich konnte nicht sicher sein, dass du es wirklich warst, denn du bist ja jetzt ein großes Mädchen von sieben Jahren. Und siehst so anders aus als damals, als ich dich auf dem Arm hielt. Vielleicht bist du schon lange irgendwo bei einer guten Familie. Ich hoffe es sehr, denn das war mein Wunsch und mein Traum.
Wilhelmina, mein liebes Mädchen, ich denke jeden Tag an dich. Ich überlege, wie es dir geht und wie du aussiehst, ob du glücklich bist und ob du jemals an mich denkst. Nachts träume ich davon, was ich dir sagen würde, wenn wir uns träfen. Doch ich weiß, das darf niemals geschehen. Mein Leben ist sehr hart, und ich könnte es nicht ertragen, die Scham in deinen Augen zu sehen, wenn du mich anschaust und weißt, dass ich deine Mutter bin.
Heute schreibe ich dir, weil ich krank bin. Der Arzt sagt, dass ich nicht mehr sehr lange zu leben habe. Ich will diese Erde nicht verlassen, ohne dir zu sagen, wie sehr ich dich geliebt habe und wie sehr ich mich bemüht habe, dich zu behalten. Ich habe deinen Vater geliebt. Er hieß Cuthbert. Ich glaube, er hat mich wirklich eine Zeitlang ebenso geliebt. Ich war damals Hausmädchen in Marlborough Gardens, Belgravia. Die beiden Jahre dort waren die glücklichsten meines Lebens. Mir war klar, dass ich das Haus verlassen musste. Ich habe mein Bestes für dich getan, solange ich konnte. Aber ich konnte nur sehr schwer Arbeit finden. Du brauchtest Essen, Arznei und Kleidung. Und ich hatte dir nur Liebe zu geben.
Das Bändchen, das ich immer aufbewahrt habe, ist aus deinem Mützchen. Ich dachte mir, dass du es vielleicht eines Tages gern haben würdest. Ich hoffe, sie händigen dir diesen Brief aus, wenn du erwachsen und alt genug bist, um dies alles zu verstehen. Bitte denke nicht zu schlecht von mir, Wilhelmina. Ich werde dich immer von ganzem Herzen lieben.
Deine Mutter Anna
Die Gefühle überwältigten mich, während ich las. Schon allein die Anrede - Meine geliebte Tochter -
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