Dracula, my love
machte mir die Augen so tränenblind, dass ich kaum weiterlesen konnte. Lange nach der letzten Zeile rollten mir noch Tränen über die Wangen.
Deine Mutter Anna. So hieß sie also, meine Mutter: Anna! Was für ein wunderschöner Name! Und welch kostbare Neuigkeit! Ein Wirbel von Gedanken und Gefühlen wühlte mich auf! Zunächst ergriff mich tiefe Trauer darüber, dass sie nicht mehr lebte. Und dann kamen die Fragen: Wie war ihr Familienname? Wie alt war sie? Woher stammte sie? Und was war mit meinem Vater? Wer war er? War er auch Bediensteter in diesem feinen Haus gewesen? Oder hatten sie sich an einem anderen Ort kennengelernt?
Mein Leben lang hatte ich mich geschämt, wenn ich daran dachte, dass mich meine Mutter unehelich geboren hatte. Nun war die Schande ein wenig gemildert, denn jetzt wusste ich, dass ich zumindest nicht das Resultat eines einzigen schnellen, lüsternen, rasch vergessenen Augenblicks war, sondern ein Kind der Liebe, der wahren Liebe. Lange saß ich da und weinte um meine Mutter, die mich geliebt hatte, um die Mutter, die ich niemals kennen würde.
Ich habe diesen Brief im Zug nach London vielleicht ein Dutzend Mal wiedergelesen, hielt das winzige, brüchige Stückchen Band in den Händen, während ich mir die Tränen abwischte. Endlich fühlte ich mich stark genug, um den Umschlag wegzulegen und meine Gedanken anderen Dingen zuzuwenden. Zu meiner großen Überraschung wurde mir unterwegs ein Telegramm überreicht.
29.SEPTEMBER 1890
FRAU MINA HARKER: VAN HELSING NACH AMSTERDAM ZURÜCKGERUFEN. TREFFE SIE AM BAHNHOF.
DR. JOHN SEWARD
Als ich in Paddington ankam, hielt ich in der geschäftigen Menge nach Dr. Seward Ausschau und hoffte, es würde mir gelingen, ihn auf dem Bahnsteig zu finden, obwohl wir einander noch nie gesehen hatten. Als sich die Menschenmenge verlief, bemerkte ich einen hochgewachsenen, attraktiven Mann mit energischem Kinn, der einen dunkelbraunen Anzug trug und etwa dreißig Jahre alt zu sein schien. Er blickte unruhig um sich.
Ich trat mit einem zögernden Lächeln auf ihn zu. „Sie sind wahrscheinlich Dr. Seward, nicht wahr?“
„Und Sie Frau Harker!“ Mit einem schüchternen, nervösen Grinsen ergriff er die Hand, die ich ihm reichte. „Der Professor lässt sich entschuldigen.“
„Der Professor?“
„Ich meine Dr. van Helsing. Für mich wird er immer der Professor bleiben, denn er war mein hochgeschätzter Lehrer. Er musste plötzlich fort. Er hat zu Hause etwas zu erledigen und kommt morgen Abend zurück. Ich nehme an, Sie haben mein Telegramm erhalten?“ Obwohl er sich größte Mühe gab, spürte ich, dass er über irgendetwas sehr bestürzt war und das zu verbergen trachtete.
„Ja. Danke. Ich kenne Sie aus den Beschreibungen meiner lieben Lucy, und ...“ Ich hielt inne, und ein heißes Erröten überzog mein Gesicht. Ich wusste zwar, dass Dr. Seward Lucy einen Heiratsantrag gemacht hatte, aber es war doch unwahrscheinlich, dass ihm bekannt war, dass mich Lucy in dieses Geheimnis eingeweiht hatte.
Sobald er Lucys Namen hörte, verging ihm das Lächeln, und er schien noch besorgter als zuvor. Warum?, fragte ich mich. War es der Schmerz über Lucys Tod? Hatte er meine Gedanken erraten? Oder war es etwas anderes? Genau in diesem Augenblick trafen sich unsere Blicke, und wir lächelten einander tapfer zu. Danach fühlten wir beide uns offensichtlich weniger unbehaglich.
„Erlauben Sie mir, Ihr Gepäck zu holen“, sagte er. Nachdem er dies erledigt hatte, fuhr er in seiner freundlichen, aber ziemlich zerstreuten Art fort: „Verzeihen Sie, Frau Harker, aber der Professor und ich waren in den letzten Tagen außerordentlich beschäftigt mit ... mit schwierigen Angelegenheiten. Wir hatten keine Gelegenheit, uns über Ihre Ankunft zu beraten oder darüber zu sprechen, welches Vorgehen er plant, ich meine, in der Sache mit ...“ Hier unterbrach er sich.
„Ich verstehe. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich abholen, Dr. Seward. Wenn Sie so freundlich wären, mich zum Berkeley Hotel zu bringen. Ich denke, dort ist Dr. van Helsing abgestiegen? Ich werde einfach dort warten, bis er zurückkehrt.“
„Nein, das habe ich nicht gemeint, Frau Harker. Die Kosten eines Hotelaufenthaltes brauchen Sie nicht zu tragen. Vielmehr war es der ausdrückliche Wunsch des Professors, dass Sie und Ihr Gatte bei mir wohnen. Ich würde mich freuen, Ihnen Zimmer in meinem Hause in Purfleet zur Verfügung stellen zu dürfen. Es sei denn ...“
„Es sei denn?“
„Hat Dr.
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