Dracula - Stoker, B: Dracula
lebte, gerne anerkennen würde. Ich habe alles hier. Ich nahm es an mich, bevor ich noch wusste, dass es Ihr Eigentum ist, um es vor fremden Händen zu schützen. Kein fremdes Auge sollte die Geheimnisse von Lucys Seele schauen. Ich werde diese Papiere bei mir behalten, wenn ich darf. Auch Sie sollen vorerst keinen Einblick nehmen, aber ich werde sie sicher aufbewahren. Wir wollen kein Wort darüber verlieren, und wenn dann bessere Zeiten kommen, gebe ich Ihnen alles zurück. Es ist etwas Schweres, was ich da von Ihnen fordern muss, wollen Sie es mir um Lucys willen gewähren?«
Arthur rief herzlich, als sei seine alte Spannkraft wieder zurückgekehrt:
»Dr. van Helsing, Sie können tun, was Sie wollen. Ich weiß, dass ich, indem ich dies sage, nur den Willen der teuren Toten zum Ausdruck bringe. Ich werde Sie nicht mit Fragen belästigen und mich gedulden, bis die Zeit da ist.«
Da stand der Professor auf und verkündete feierlich:
»So ist es recht. Wir alle werden noch viel Leid zu ertragen haben, aber es wird nicht nur Schmerz sein, und der Schmerz wird nicht siegen. Ich und Sie – Sie am allermeisten, mein lieber Junge –, wir müssen durch bittere Wasser, bevor wir an die klare Quelle gelangen. Wenn wir aber tapferen Herzens und selbstlos sind, und wenn wir unsere Pflicht tun, dann wird alles gut werden!«
Ich schlief die Nacht auf einem Sofa in Arthurs Zimmer. Van Helsing ging überhaupt nicht zu Bett. Er patrouillierte durch das Haus und ließ das Zimmer mit Lucys Sarg nicht aus den Augen. Rings um die Bahre lag wilder Knoblauch verstreut, der durch den milden Duft der Lilien und Rosen hindurch einen schweren, betäubenden Geruch in die stille Nacht hinaussandte.
|250| Mina Harkers Tagebuch
22. September
Im Zug nach Exeter. Jonathan schläft. Mir ist, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich meinen letzten Eintrag gemacht habe, und doch, was liegt nicht alles zwischen damals und heute! Es war in Whitby, und die ganze Welt lag noch vor mir. Jonathan war in weiter Ferne, und ich hatte keine Nachrichten von ihm. Nun bin ich mit Jonathan verheiratet, er ist Anwalt, Teilhaber, wohlhabend und Herr seines Geschäftes. Mr. Hawkins ist tot und begraben – ein Schlag, der Jonathan wieder zurückgeworfen hat. Alles vergeht … Ich habe das Stenografieren beinahe verlernt, eine Begleiterscheinung unseres neuen Wohlstandes. Es ist ganz gut, wieder ein wenig Übung zu bekommen …
Die Trauerfeier für Mr. Hawkins war sehr schlicht und zugleich sehr ergreifend. Anwesend waren nur wir, die Dienerschaft, einige seiner alten Freunde aus Exeter, sein Londoner Vertreter und ein Herr, der in Vertretung von Mr. John Paxton gekommen war, welcher Präsident des Juristenverbandes ist. Jonathan und ich standen Hand in Hand, und wir empfanden, dass unser bester und treuester Freund von uns gegangen war.
Wir kehrten dann schweigend in die Stadt zurück und bestiegen den Pferdeomnibus nach Hyde Park Corner. Jonathan meinte, es wäre für mich ganz interessant, die Rotten Row 2 kennenzulernen, und so ließen wir uns dort ein wenig nieder. Aber es waren nur wenige Leute da, und die vielen leeren Stühle machten einen trostlosen Eindruck auf mich – wir mussten immerzu an den leeren Stuhl denken, der nun zu Hause auf uns wartete. Wir standen also bald wieder auf und wandelten Piccadilly hinunter. Jonathan hatte meine Hand genommen, ganz so, wie er es früher getan hatte, als ich noch nicht Lehrerin war. Ich fand das etwas unpassend, denn man kann ja nicht jahrelang |251| junge Mädchen in Etikette unterrichten, ohne dass dies auf einen selbst abfärbt, aber schließlich war es Jonathan,
mein Mann,
und außerdem war ja niemand in der Nähe, der uns kannte. Und selbst wenn man uns gekannt hätte, wäre es uns wohl gleichgültig gewesen. Wir hielten Händchen und schlenderten vor uns hin. Ich betrachtete gerade ein wunderschönes Mädchen mit einem mächtigen Rembrandthut, das in einer Kutsche vor Giulianos wartete, als Jonathan meinen Arm drückte, dass es mich schmerzte, und halb erstickt ausrief: »Mein Gott!« Ich bin immer in Sorge um Jonathan, denn ich fürchte, dass irgendein Zufall wieder seine Nerven aufregen könnte. Ich wandte mich also rasch zu ihm um und fragte ihn, was es denn gebe.
Er war ganz bleich, und seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, wie er, halb erstaunt, halb entsetzt, auf einen großen, hageren Mann mit einer Adlernase, weißem Schnurr- und spitzem Kinnbart starrte, der ebenfalls das
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