Dracula - Stoker, B: Dracula
wie der Sonnenschein, die Spannung lässt nach und wir sind von Neuem imstande, an unsere Arbeit zu gehen, was es auch sei.«
|256| Ich wollte ihn nicht verletzen und gestand ihm also nicht, dass mir der Sinn seiner Rede ein Rätsel war. Da ich aber wenigstens die konkrete Ursache seines gegenwärtigen Lachanfalls erfahren wollte, fragte ich ihn danach. Da wurde sein Gesicht wieder sehr ernst, und er antwortete mir in einer gänzlich anderen Art:
»Ach, es war die grausame Ironie, die in alldem lag – das liebliche Mädchen, das, mit Blumen geschmückt, so blühend aussah wie im Leben, sodass einer nach dem anderen seine Zweifel äußerte, ob sie denn wirklich tot sei. Sie lag in dem schönen Marmorhaus da draußen auf dem einsamen Friedhof, wo schon so viele ihres Geschlechtes ruhen, lag dort mit ihrer Mutter, die sie liebte und die von ihr geliebt wurde, und die Totenglocke klang so traurig und leise. Und jene heiligen Männer mit den Engelsgewändern, die scheinbar aus den Büchern vorlasen und doch keinen Augenblick auf deren Seiten sahen, und dazu wir alle mit tief gebeugtem Haupt. Und wofür das alles? Sie ist tot, Ende! Nicht wahr?«
»Und dennoch, Herr Professor«, sagte ich, »kann ich da nicht das Geringste erkennen, was Anlass zum Lachen gäbe. Ihre Erklärung macht mir die Sache nur noch verworrener. Ich will meinetwegen zugeben, dass die Zeremonie etwas Seltsames an sich gehabt haben mag, aber doch nicht Arthur in seinem Schmerz! Sein Herz war, weiß Gott, nahe am Brechen.«
»So ist es. Aber sagte er nicht auch, dass erst die Bluttransfusion Lucy zu seiner wahren Braut gemacht habe?«
»Gewiss, es wird ein tröstlicher Gedanke für ihn gewesen sein.«
»Ganz recht, aber das ist auch gerade der Punkt: Wenn es wirklich so wäre, was wäre denn dann mit uns anderen? Hoho! Dann wäre das reizende Mädchen also polygam, und ich, der ich nach dem Kirchenrecht noch verheiratet und meiner Frau treu bin, obwohl sie schon lange tot ist, ich wäre ein Bigamist!«
»Ich begreife noch immer nicht, wo daran der Witz sein soll!«, entgegnete ich, und es gefiel mir auch nicht, dass er solche Dinge redete. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte:
|257| »Freund John, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin! Ich verbarg meine Gefühle vor denen, die durch sie verletzt sein könnten, aber Ihnen offenbarte ich mich, weil ich Ihnen trauen kann. Ich wollte, Sie könnten in mein innerstes Herz schauen, wenn ich lachen muss. Wenn Sie dort die Ankunft des Lachens beobachten könnten, und wenn Sie nur sehen könnten, wie der König des Lachens beim Abschied seine Krone und all seine Habseligkeiten packt – denn er reist weit, weit weg von mir und für eine lange, lange Zeit –, ich glaube, Sie würden mich mehr bedauern als jeden anderen Menschen.«
Ich war von seinem plötzlichen Stimmungsumschwung verwirrt und fragte ihn, weshalb er so betroffen sei.
Seine Antwort war: »Weil ich
wissend
bin!«
Und nun sind wir in alle Winde zerstreut, und an so manchen langen Tagen wird die Einsamkeit mit gefalteten Schwingen auf unseren Dächern sitzen. Lucy liegt in der Gruft ihrer Ahnen, eine herrschaftliche Grabstätte draußen auf einem stillen, einsamen Friedhof weit ab von London, wo die Luft frisch ist, wo die Sonne über Hampstead Hill heraufsteigt und auf wilde Blumen scheint.
So kann ich also mein Tagebuch beschließen; Gott allein weiß, ob ich je ein neues beginnen werde. Wenn dies geschehen sollte, oder wenn ich dieses fortsetze, so wird es sich gewiss um andere Dinge handeln, und es werden andere Personen auftreten. Hier aber, wo die Romanze meines Lebens an ihr Ende gekommen ist, sage ich, ehe ich wieder an meine Arbeit gehe, traurig und ohne Hoffnung:
Finis
.
»The Westminster Gazette«
Das Geheimnis von Hampstead
25. September. In der Nachbarschaft von Hampstead spielen sich gegenwärtig Ereignisse ab, die eine auffallende Ähnlichkeit haben mit denen, die unter den Schlagzeilen »Der Kensington-Horror«, »Die Frau mit dem Dolch« oder »Die Dame in Schwarz« berichtet |258| wurden. Während der letzten zwei oder drei Tage ist es nämlich mehrfach vorgekommen, dass kleine Kinder von zu Hause fortliefen oder nicht von ihren Spielen auf der Heide zurückkehrten. In allen Fällen waren die Kinder zu klein, um wirklich zuverlässige Gründe angeben zu können, aber in einem stimmen alle ihre Entschuldigungen überein, dass sie nämlich mit einer »Schönen Lady« 3 zusammengewesen
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