Dracula - Stoker, B: Dracula
nicht erstaunt oder vielmehr entsetzt, als ich Arthur seine sterbende Braut nicht küssen lassen wollte und ihn mit aller Kraft wegriss? Ja! Und Sie haben auch gesehen, wie sie mir mit ihren wundervollen Augen im Sterben noch dankte, mit ihrer schwachen Stimme, und wie sie meine alte, raue Hand küsste und mich segnete! Und hörten Sie nicht auch das feierliche Versprechen, das sie von mir empfing, sodass sie voller Frieden die Augen schloss? Nun, ich habe gute Gründe für das, was ich tun muss. Sie haben mir viele Jahre lang Ihr Vertrauen geschenkt, und Sie haben mir in den vergangenen Wochen geglaubt, als sich so seltsame Dinge ereigneten, dass Sie für Zweifel allen Grund gehabt hätten. Glauben Sie noch eine kleine Weile länger an mich, Freund John! Wenn sie mir nicht trauen können, so muss ich Ihnen alles offenbaren, was ich denke, und das wäre jetzt nicht gut. Die Arbeit muss in jedem Fall erledigt werden, und wenn ich mich an die Arbeit mache, ohne dass mein Freund an mich glaubt, so muss ich mit schwerem Herzen arbeiten und werde mich sehr verlassen fühlen, wo ich doch aller erdenklichen Hilfe und Aufmunterung bedarf.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann in feierlichem Ton fort: »Lieber John, die kommenden Tage werden uns seltsame, schreckliche Dinge bringen. Lassen Sie uns nicht zwei, sondern eins sein, damit unser Werk ein gutes Ende finde. Wollen Sie mir Ihr Vertrauen schenken?«
Ich reichte ihm die Hand und versprach es ihm. Dann hielt ich ihm die Tür auf und sah ihm nach, wie er in sein Zimmer ging und die Tür hinter sich abschloss. Während ich noch bewegungslos an meiner offenen Tür stand, sah ich eines der Zimmermädchen lautlos den Gang entlanghuschen und in Lucys Sterbezimmer verschwinden – das Mädchen wandte mir den Rücken zu und konnte mich nicht bemerken. Das berührte mich sehr, denn Anhänglichkeit ist etwas so Seltenes, dass wir denen |243| dankbar sind, die sie unaufgefordert unseren Lieben erweisen. Das gute Mädchen missachtete die Scheu, die ihr der Tod naturgemäß einflößen musste, und sie wollte wohl allein an der Bahre der geliebten Herrin wachen, damit die sterbliche Hülle nicht gänzlich verlassen ist, bis man sie zur ewigen Ruhe trägt.
Ich muss lange und tief geschlafen haben, denn es war heller Tag, als van Helsing in mein Zimmer trat und mich weckte. Er kam an mein Bett und sagte:
»Sie brauchen sich wegen der Messer doch nicht mehr zu bemühen; wir werden es nicht tun.«
»Warum nicht?«, fragte ich, denn seine Feierlichkeit gestern Abend hatte mich tief ergriffen.
»Weil es zu spät ist«, sagte er bedrückt, »oder zu früh. Sehen Sie!« Er hielt mir das goldene Kruzifix hin. »Das ist heute Nacht gestohlen worden.«
»Wie, gestohlen? Sie haben es doch noch?«, fragte ich verwundert.
»Weil ich es dem nichtswürdigen Geschöpf, das den Diebstahl begangen hat, wieder abgenommen habe, einem Frauenzimmer, das die Toten und die Lebenden gleichermaßen bestohlen hat. Ihre Strafe wird nicht ausbleiben, aber nicht
ich
werde sie bestrafen. Sie hat ja nicht gewusst, was sie tat, und nur deswegen, weil sie es nicht wusste, hat sie gestohlen. Nun heißt es wieder warten.«
Dann ging er fort und hinterließ mir ein neues Geheimnis, um darüber nachzugrübeln, ein neues Rätsel, um mir den Kopf daran zu zerbrechen.
Der Vormittag war schrecklich trostlos. Gegen Mittag kam der Anwalt, Mr. Marquand von der Kanzlei Wholeman, Sons, Marquand & Lidderdale. Er war sehr aufgeräumt und äußerte sich sehr anerkennend über unsere bisherige Tätigkeit, nahm uns aber die Sorgen um die weiteren Details ab. Während des Essens erzählte er, dass sich Mrs. Westenra schon seit geraumer Zeit auf einen raschen Tod infolge ihres Herzleidens gefasst gemacht und |244| deshalb alle ihre Angelegenheiten in peinlichste Ordnung gebracht habe. Er teilte uns auch mit, dass, mit Ausnahme eines kleinen, von Lucys Vater seinerzeit eingebrachten Vermögens, das nun, nachdem eine Verfügung hierüber fehlte, an entfernte Verwandte der Familie fiel, die ganze Hinterlassenschaft Arthur Holmwood gehöre. Nach diesen Eröffnungen fuhr er fort:
»Offen gesagt, wir haben unser Möglichstes getan, um eine derartige letztwillige Verfügung zu verhindern. Wir machten Mrs. Westenra auf gewisse Umstände aufmerksam, die ihre Tochter entweder vollkommen vermögenslos machen oder sie wenigstens in ihren Entschließungen bei der Auswahl eines Gatten beeinträchtigen könnten. Fast entzweiten wir uns
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