Dracula - Stoker, B: Dracula
schöne Mädchen beobachtete. Er sah so gespannt zu ihr hin, dass er uns beide nicht bemerkte, und so konnte ich ihn genau ins Auge fassen. Der Mann hatte kein gutes Gesicht, es war hart, grausam und sinnlich, und seine weißen Zähne, die gegen die roten Lippen auffallend abstachen, waren spitz wie die eines Raubtieres. Jonathan starrte ihn ununterbrochen an, sodass ich schon befürchtete, der Fremde würde es bemerken und es ihm übel nehmen, immerhin sah er ziemlich unangenehm aus. Ich fragte Jonathan, was ihn denn so verstört habe, und er antwortete, offenbar in der Meinung, dass ich ebenso viel wüsste wie er: »Erkennst du, wer das ist?«
»Nein, Liebster«, erwiderte ich, »ich kenne ihn nicht. Wer ist das denn?« Seine Antwort erschreckte mich, denn es schien, als ob sie gar nicht an mich gerichtet war:
»Er ist es
selbst
!«
Der Ärmste war offenkundig über irgendetwas entsetzt – furchtbar entsetzt. Ich glaube, wenn ich nicht neben ihm gestanden und ihn gestützt hätte, so wäre er zusammengesunken. Er hielt den Blick unverwandt auf den Fremden gerichtet. Ein |252| Mann kam mit einem kleinen Päckchen aus dem Laden, er gab es der Dame, worauf sich deren Kutsche in Bewegung setzte. Der unheimliche Fremdling ließ sie nicht aus den Augen, und als ihre Kutsche Piccadilly hinauffuhr, rief er sich auch eine Droschke herbei und folgte ihr. Jonathan sah lange hinter ihm drein und sagte wie im Selbstgespräch:
»Ich glaube, es ist der Graf, aber er ist jünger geworden. Entsetzlich, wenn das wirklich so wäre! Oh mein Gott, oh mein Gott! Wenn ich nur wüsste, wenn ich nur wüsste!« Er war in höchster Erregung, und ich fürchtete, ihn durch Nachfragen nur noch intensiver an den Gegenstand zu fesseln, also schwieg ich. Ich zog ihn dann mit mir fort, und er folgte mir bereitwillig. Wir gingen weiter und kamen in den Green Park, wo wir uns ausruhen wollten. Es war ein warmer Herbsttag, und wir fanden eine hübsche Bank an einem schattigen Plätzchen. Einige Minuten starrte Jonathan ins Leere, dann schlossen sich seine Augen, und er versank in einen ruhigen Schlummer, sein Haupt an meine Schulter gelehnt. Ich dachte mir, das sei das Beste für ihn, und störte ihn nicht. Nach etwa zwanzig Minuten wachte er wieder auf und sagte heiter:
»Mina, ich habe wohl geschlafen? Entschuldige die Ungezogenheit. Komm, wir wollen irgendwo eine Tasse Tee trinken!« Er hatte den finsteren Fremden offenbar vollkommen vergessen, so wie er in seiner Krankheit alles vergessen hatte, woran ihn die Episode mit dem Fremden jetzt erinnert haben mochte. Mir gefällt dieses Versinken in Vergessenheit gar nicht, vielleicht deutet es ja auf einen geschädigten Verstand hin? Ich darf ihn nicht darüber befragen, denn ich könnte damit mehr verderben als bessern. Aber irgendwie muss ich wohl doch die Fakten seiner Reise in Erfahrung bringen. Ich fürchte beinahe, die Zeit ist gekommen, das Paket zu öffnen und seinen Inhalt zu lesen. Oh Jonathan, Du musst mir verzeihen, wenn ich damit etwas Unrechtes tun sollte, denn es ist ja nur zu Deinem eigenen Besten!
|253| Später
Eine entsetzliche Heimkehr in jeder Hinsicht: Im Haus fehlte die treue Seele, die so gut zu uns war, Jonathan war unter dem Einfluss seines leichten Rückfalls bleich und verstört, und dann kam auch noch ein Telegramm von einem van Helsing, wer immer das sein mag.
»Ich habe Ihnen die traurige Mitteilung zu machen, dass Mrs. Westenra vor fünf Tagen verstorben ist. Ihre Tochter Lucy folgte ihr vorgestern nach. Beide sind heute beerdigt worden.«
Oh, welch eine Fülle von Elend in so wenigen Worten! Arme Mrs. Westenra, arme Lucy! Fort sind sie, fort, und sie werden niemals mehr zu uns zurückkehren! Und der arme Arthur, der den Schatz seines Lebens verloren hat! Gott helfe uns allen, unser Leid zu ertragen!
Dr. Sewards Tagebuch
22. September
Alles ist vorüber. Arthur ist zurück nach Ring, und er hat Quincey Morris mitgenommen. Was für ein prächtiger Kerl Quincey doch ist! Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass er über Lucys Tod ebenso viel Schmerz empfindet wie wir beide, aber er bezwingt sein Leid wie ein Wikinger. Wenn Amerika fortfährt, solche Männer zu erzeugen, wie er einer ist, dann wird es einst eine Weltmacht darstellen. Van Helsing schläft unten und ruht sich für seine Reise aus. Er fährt heute Nacht noch nach Amsterdam, hat aber versprochen, morgen Abend wiederzukommen – er hat wohl nur einiges zu besorgen, was er persönlich
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