Dracula - Stoker, B: Dracula
mit Mrs. Westenra, sie fragte uns schon, ob wir ihre Wünsche erfüllen wollten oder nicht. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als ihren Vorstellungen zu entsprechen. Theoretisch hatten wir mit unseren Bedenken natürlich recht, in 99 von 100 Fällen hätten die Tatsachen das bestätigt. Jetzt muss ich aber zugeben, dass so, wie die Dinge nun liegen, jede andere Form der Verfügung die Ausführung ihrer letzten Wünsche unmöglich gemacht hätte. Denn da Mrs. Westenra vor ihrer Tochter starb, wäre zunächst diese in den Besitz des Erbes gekommen. Dann aber wäre das Vermögen in Ermangelung eines Testaments – und ein solches wäre im vorliegenden Falle eine vollständige Unmöglichkeit – nach dem Erbschaftsgesetz behandelt worden, Lord Godalming 1 hätte also, so eng er auch mit der Familie verbunden war, nicht den geringsten Anspruch gehabt, und die Erben, entfernte Verwandte, hätten wohl kaum aus gutem Willen auf ihre Rechte zugunsten eines ihnen Unbekannten verzichtet. Ich versichere Ihnen daher, meine Herren, dass ich mich über die gegenwärtige Lage der Dinge aufrichtig freue!«
Er war ein guter Kerl, aber seine Freude über diese Kleinigkeit, an der er zudem selbst etwas verdiente, schränkte angesichts der |245| großen Tragödie, die das Haus getroffen hatte, unsere Sympathien für ihn deutlich ein.
Er blieb nicht lange, versprach aber, später noch einmal wiederzukommen, um Lord Godalming zu treffen. Sein Kommen brachte uns immerhin eine gewisse Beruhigung, denn nun konnten wir uns darauf verlassen, dass unsere bisherigen Entscheidungen nicht angezweifelt werden würden. Arthur hatte sich für fünf Uhr angesagt, und wir gingen kurz vor dieser Zeit ins Totenzimmer hinauf, in dem Mutter und Tochter nebeneinander aufgebahrt lagen. Der Bestattungsunternehmer hatte ganze Arbeit geleistet und jegliche Art von Trauerschmuck in Anwendung gebracht; es lag die gedämpfte Stimmung einer Leichenhalle über dem gesamten Raum, die uns alle augenblicklich niederdrückte. Van Helsing ordnete daher an, das vorherige Arrangement wiederherzustellen, was er damit begründete, dass es für Lord Godalmings Gefühle weniger deprimierend sei, wenn er die irdischen Überreste seiner Braut ganz alleine sähe. Der Bestatter zeigte sich über seine eigene Pietätlosigkeit äußerst erschrocken und machte sich eigenhändig daran, die Dinge wieder so herzurichten, wie sie am Abend zuvor gewesen waren. Wir hofften, auf diese Weise den Gefühlen Arthurs am besten Rechnung zu tragen.
Der Ärmste! Als er kam, sah er so unsagbar traurig und völlig gebrochen aus, seine stählerne Kraft schien unter der Last seines Leides geschrumpft zu sein. Er hatte, wie ich wusste, in aufrichtiger Liebe an seinem Vater gehangen; ihn zu verlieren, und gerade zu dieser Zeit, war eine schwere Prüfung für ihn. Zu mir war Arthur so herzlich wie immer, und auch van Helsing gegenüber verhielt er sich äußerst zuvorkommend, wenngleich ich in seinem Benehmen eine gewisse Zurückhaltung zu bemerken glaubte. Auch der Professor musste es bemerkt haben, denn er gebot mir, Arthur sogleich hinaufzuführen. Ich folgte diesem Wink und begleitete meinen Freund bis zur Tür des Zimmers, in dem Lucy aufgebahrt lag. Als ich ihn hier verlassen wollte, weil ich meinte, |246| er wolle allein mit ihr sein, ergriff er meinen Arm und sagte heiser:
»Du hast sie doch auch geliebt, mein Freund. Sie hat mir davon erzählt, von all unseren Freunden standest du ihrem Herzen am nächsten. Ich weiß nicht, wie ich dir für all das danken soll, was du für sie getan hast. Ich kann im Moment überhaupt nicht denken …«
Hier brach er zusammen, schlang seine Arme um mich, lehnte den Kopf an meine Schulter und schluchzte:
»Oh Jack, Jack! Was soll ich nur tun? Mein ganzer Lebensinhalt ist mir auf einmal verlorengegangen. Es gibt nichts mehr auf der Welt, für das ich noch leben möchte.«
Ich leistete ihm Beistand, so gut ich es vermochte. Männer bedürfen in solchen Situationen ja nicht allzu vieler Worte; ein Händedruck, eine freundschaftliche Umarmung, ein gemeinsamer Seufzer sind ein hinreichender Ausdruck des Mitgefühls. Ich verhielt mich also schweigend und wartete, bis sein Weinen ruhiger wurde. Dann sagte ich leise zu ihm:
»Komm, gehen wir ein letztes Mal zu ihr!«
Wir traten gemeinsam zum Totenbett und ich hob das Laken auf. Gott, wie schön sie war, und mit jeder Stunde schien sie noch schöner zu werden! Ich war erschrocken und fasziniert zugleich.
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