Dracula - Stoker, B: Dracula
sonst, den ich hätte fragen können. Ich weiß, dass Sie mit ihr in Whitby waren, sie führte ja zeitweise ein Tagebuch. Sie brauchen sich nicht zu wundern, Madame Mina; es wurde erst begonnen, nachdem Sie fort waren, und Lucy wollte Ihnen darin wohl nacheifern. In diesem Tagebuch führt sie jedenfalls gewisse Dinge auf eine ihrer Schlafwandeleien zurück, bei der sie von Ihnen gerettet wurde. In großer Ratlosigkeit komme ich also zu Ihnen und bitte Sie, mir in Ihrer Güte alles zu berichten, woran Sie sich erinnern.«
»Ich glaube, Dr. van Helsing, dass ich Ihnen hierzu ausführlich Auskunft geben kann.«
»Ah, dann haben Sie also ein gutes Gedächtnis für Fakten, für Details? Man findet das nicht sehr häufig bei jungen Ladys.«
»Nein, Herr Doktor, aber ich habe seinerzeit alles aufgeschrieben. Ich kann es Ihnen zeigen, wenn Sie wünschen.«
»Oh, Madame Mina, ich bin Ihnen zutiefst dankbar, Sieerweisen mir damit einen großen Gefallen!« Hier konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ihn ein wenig zu necken – wahrscheinlich haben wir Frauen noch immer etwas von dem Geschmack des Apfels im Mund, den Eva einst im Paradies pflückte. Jedenfalls reichte ich ihm zunächst mein stenografiertes Tagebuch. Er nahm es mit dankender Verbeugung und sagte:
»Darf ich es lesen?«
»Wenn Sie wünschen«, antwortete ich so unbefangen wie möglich. Er öffnete es, und sein Gesicht wurde lang. Dann stand er auf und verneigte sich wieder.
»Sie sind eine gescheite Frau«, sagte er. »Mr. Jonathan darf sich sehr glücklich schätzen. Würden Sie mir die Freude und Ehre erweisen, mir dies hier zu entziffern? Leider bin ich der Kurzschrift nämlich nicht mächtig.« So war mein kleiner Scherz also |267| schon vorüber, und ich schämte mich seiner beinahe. Ich nahm daher die mit der Maschine geschriebene Kopie aus meinem Arbeitskörbchen und übergab sie ihm.
»Verzeihen Sie«, sagte ich, »ich konnte nicht widerstehen. – Als Sie mich brieflich um ein Gespräch über die liebe Lucy ersucht hatten, habe ich gedacht, eine Transkription würde einiges vereinfachen und Zeit sparen – nicht meine Zeit, sondern die Ihrige, die kostbar ist.«
Er nahm das Schriftstück, und seine Augen glänzten. »Sie sind wunderbar«, sagte er. »Darf ich es
jetzt
lesen? Dann könnte ich Sie noch einige Dinge fragen, wenn ich fertig bin.«
»Aber natürlich«, sagte ich. »Lesen Sie es, während ich das Essen auftragen lasse. Wir können uns dann beim Lunch darüber unterhalten.« Er verbeugte sich wieder, setzte sich mit dem Rücken zum Licht in einen Sessel und vertiefte sich in die Lektüre, während ich hinausging, um mich um das Essen zu kümmern, aber auch, um ihn nicht zu stören. Als ich zurückkam, lief er im Zimmer auf und ab, sein Gesicht war hochrot vor Erregung. Er eilte sofort auf mich zu und ergriff meine Hände.
»Oh, Madame Mina«, sagte er, »wie kann ich Ihnen sagen, was ich Ihnen zu danken habe? Diese Schrift ist wie heller Sonnenschein für mich, sie öffnet mir das Tor. Ich bin betäubt und geblendet von so viel Licht, und die dunklen Wolken verfliegen, auch wenn Sie das nicht verstehen, nicht verstehen
können
. Wie bin ich Ihnen dankbar, Sie kluge, gute Frau. – Madame«, sagte er, auf einmal feierlich werdend, »wenn je Abraham van Helsing etwas für Sie oder die Ihrigen tun kann, dann erwarte ich, dass Sie es mir mitteilen. Es wird mir eine Freude und ein Vergnügen sein, wenn ich Ihnen als Freund zur Seite stehen kann. Alles, was ich gelernt habe, alles, was ich tun kann, soll geschehen für Sie und für die, die Ihnen teuer sind. Es gibt Lichter im Leben, aber es gibt auch Schatten. Sie sind eines von den Lichtern! Sie werden ein glückliches, schönes Leben haben, und Ihr Gatte ist mit Ihnen gesegnet.«
|268| »Aber, Herr Professor, Sie loben mich zu sehr, und außerdem kennen Sie mich doch gar nicht.«
»Ich Sie nicht kennen? Ich, der ich alt bin und mein Lebtag die Menschen studiert habe? Der ich als mein Fachgebiet das menschliche Gehirn gewählt habe und alles, was mit diesem zusammenhängt und was aus ihm erwächst? Und habe ich denn nicht auch das Tagebuch gelesen, das Sie so freundlich für mich abgeschrieben haben und das in jeder Zeile Wahrheit atmet? Und ich kenne auch Ihren schönen Brief an die arme Lucy, in dem Sie von Ihrer Heirat und Ihren Hoffnungen erzählen – wie sollte ich Sie über alldem nicht kennengelernt haben? Madame Mina, gute Frauen zeichnen sich dadurch aus, dass alles, was
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