Dracula - Stoker, B: Dracula
anderen Worten: Untersuchen wir die Beschränkungen, die allgemein auf Vampire zutreffen, und diejenigen, denen insbesondere unser Gegner unterliegt.
Alles, worauf wir hier zurückgreifen können, sind Tradition und Aberglaube. Das scheint im ersten Augenblick nicht viel, |347| wenn man bedenkt, dass es sich um Leben und Tod handelt, oder leider sogar um mehr als Leben und Tod. Dennoch müssen wir zufrieden sein, zum einen, weil es keine anderen Mittel für uns gibt, und zum anderen, weil schließlich
alles
Tradition und Aberglaube ist. Beruht nicht der Glaube an Vampire für andere – leider nicht für uns! – einzig auf diesen beiden? Wer von uns hätte denn noch vor einem Jahr solch eine Möglichkeit auch nur in Betracht gezogen, mitten in unserem wissenschaftlichen, nüchternen 19. Jahrhundert? Wir haben doch schon Dinge für unmöglich erklärt, die sich direkt vor unseren Augen abspielen! Nehmen Sie also mit mir an, dass der Glaube an Vampire und das traditionelle Wissen über deren Schwächen sowie die Möglichkeiten ihrer Bekämpfung auf denselben Fundamenten ruhen. Ich kann Ihnen versichern, dass man überall da, wo Menschen leben, auch Vampirismus kennt. Im alten Griechenland, im alten Rom, in Deutschland, Frankreich und Indien, ja selbst auf den Dardanellen und in China, das doch in jeder Hinsicht so weit von uns entfernt liegt – überall ist der Vampir bekannt, und die Menschen fürchten sich bis auf den heutigen Tag vor ihm. Er kam mit den isländischen Berserkern und im Schatten der von Teufeln erzeugten Hunnen zu den Slawen, den Sachsen und Magyaren. So weit reichen also unsere Kenntnisse über ihn, und in der Tat ist so manches, was jene Völker von ihm glaubten und noch glauben, durch das erwiesen, was wir an uns selbst erfahren mussten. Der Vampir lebt immer weiter und kann nicht sterben, er gedeiht immer weiter, solange er sich vom Blut lebender Wesen ernähren kann. Mehr noch! Wir haben selbst erfahren, dass er sich sogar zu verjüngen vermag, dass seine Lebenskraft immer größer wird und sich immer wieder zu erneuern scheint, wenn er nur genügend Nahrung hat. Aber er kann ohne diese Nahrung nicht existieren, er isst nicht wie andere. Selbst unser Freund Jonathan hier, der über Wochen mit ihm gelebt hat, sah ihn niemals essen, niemals! Er wirft keine Schatten und hat im Spiegel kein Bild, wie Jonathan gleichfalls beobachtet hat. Seine Hand allein hat die |348| Kraft vieler Männer, Zeuge dafür ist wiederum Jonathan, der ihn das Tor vor den Wölfen verschließen sah und der seinen Griff beim Aussteigen aus dem Wagen fühlte. Er kann sich in einen Wolf verwandeln, wie wir seit der Ankunft jenes gespenstischen Schiffes in Whitby wissen, wo er einen Hund zerriss. Er kann als Fledermaus erscheinen – Madame Mina hat ihn als solche am Fenster in Whitby beobachtet, Freund John sah ihn aus unserem Nachbarhaus fliegen, und mein Freund Quincey hat ihn so an Lucys Fenster sitzen sehen. Er kann im Nebel kommen, den er sich selbst schafft, dafür haben wir das Zeugnis jenes pflichtgetreuen Kapitäns. Aber nach dem, was wir weiter wissen, ist die Entfernung, auf die er solche Nebel erzeugen kann, auf einen gewissen Umkreis begrenzt. Er kommt im Mondlicht als Staubwolke, Jonathan hat ja die unheimlichen Schwestern auf Burg Dracula auf diese Weise entstehen sehen. Er kann sich sehr klein machen – wir selbst haben Lucy durch eine winzige Spalte zur Grufttür hineinschlüpfen sehen, bevor wir ihr den ewigen Frieden bringen konnten. Er kann, wenn er einmal einen bestimmten Weg genommen hat, immer wieder hinein und heraus; es mag alles noch so fest verschlossen, ja sogar verlötet sein. Er sieht durch die Dunkelheit – eine mächtige Gabe auf dieser Welt, die ja die Hälfte ihrer Zeit im Finstern ruht. Ja, all dies vermag er, aber hören Sie mich zu Ende an! Er kann all das, aber er ist dennoch nicht frei. Im Gegenteil, er ist noch schlimmer dran als ein Galeerensträfling oder ein Wahnsinniger in seiner Isolierzelle. Er kann nicht überall dorthin, wohin es ihn gelüstet; er, der außerhalb der Natur steht, muss sich dennoch einigen ihrer Gesetze fügen. Warum, das wissen wir nicht. Er darf nirgends von alleine eintreten, es sei denn, jemand aus dem Haus lädt ihn dazu ein. Wenn dies aber erst einmal geschehen ist, so kann er danach kommen und gehen, wie er will. Seine Macht zerbröckelt, wie die aller bösen Dinge, sobald der Tag kommt. Nur zu gewissen Zeiten hat er seine begrenzte Freiheit. Wenn er
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