Dracula - Stoker, B: Dracula
Er besitzt die Fähigkeit der Nekromantie, kann also, wie die Etymologie des Wortes bereits sagt, die Toten beschwören und ihr Wissen als Orakel benutzen. Alle Toten, in deren Nähe er kommt, folgen seinen Befehlen. Er ist grausam, nein, mehr als grausam: Er ist absolut unempfindlich gegenüber allem, er ist ein Teufel ohne Herz. Er kann, mit gewissen Einschränkungen, erscheinen, wann und wo und in welcher Gestalt er will. Er kann innerhalb seines Machtbereiches den Elementen gebieten: dem Sturm, dem Nebel, dem Donner. Er hat auch Macht über geringere Lebewesen, über Ratten, |345| Fledermäuse, Fliegen, Füchse und Wölfe. Er kann sich größer oder kleiner, er kann sich sogar zeitweilig unsichtbar machen und ungesehen kommen und gehen. – Nun, wie wollen wir also vorgehen, um ihn zu vernichten? Wie bringen wir heraus, wo er ist, und wenn wir das gefunden haben, wie können wir ihn unschädlich machen? Meine Freunde, das ist nicht einfach! Es ist ein schreckliches Unternehmen, das wir uns da vorgenommen haben, und es kann Folgen zeitigen, die auch den Tapfersten unter uns erzittern lassen. Denn wenn unser Plan misslingt, ist
Er
der Sieger. Und wie werden
wir
dann wohl enden? Das Leben bedeutet nichts, ich klammere mich nicht daran. Aber wenn wir unterliegen, handelt es sich um mehr als um Leben und Tod. Wir werden dann nämlich so wie er, wir werden grässliche Nachtgespenster ohne Herz und Gewissen, die die Leiber und Seelen all derer zu vernichten trachten, die wir vorher am meisten geliebt haben. Uns sind dann auf ewig die Pforten des Himmels verschlossen, denn wer sollte sie uns wieder öffnen? Wir werden für immer der Abscheu aller sein, ein Schandfleck auf Gottes reinem Angesicht, ein Pfeil in der Seite dessen, der für die Menschen gestorben ist. Aber wir stehen unserer Pflicht Auge in Auge gegenüber. Dürfen wir in diesem Fall noch zögern? Ich für meine Person sage: Nein! Denn ich bin alt, und das Leben mit seinem Sonnenschein, seinem Vogelgesang, seiner Musik und seiner Liebe liegt weit hinter mir. Sie aber sind jung. Einige von Ihnen haben zwar das Leid schon kennengelernt, aber Sie alle haben noch Aussicht auf schöne Tage. Was sagen Sie dazu?«
Während van Helsing so sprach, hatte Jonathan meine Hand ergriffen. Ich fürchtete, dass ihn die erschreckende Beschreibung der uns drohenden Gefahren überwältigt habe, als ich ihn seine Hand nach mir ausstrecken sah, aber Freude durchzog mein Herz, als ich den Druck dieser Hand fühlte – so stark, so selbstbewusst und so entschlossen war er. Die Hand eines mutigen Mannes spricht für diesen selbst, und es ist nicht einmal die Liebe einer Frau nötig, diese Sprache zu verstehen.
|346| Nachdem der Professor geendet hatte, sah mir mein Mann in die Augen und ich in die seinen. Wir verstanden uns ohne Worte.
»Ich bürge für Mina und mich«, sagte er.
»Zählen Sie auf mich, Professor«, sagte Quincey Morris, lakonisch wie immer.
»Ich bin dabei«, sagte Lord Godalming, »schon um Lucys willen, wenn es nicht noch andere Gründe genug gäbe.«
Dr. Seward nickte nur. Der Professor stand auf, legte das goldene Kruzifix auf den Tisch und streckte seine Hände nach beiden Seiten hin aus. Ich ergriff seine Rechte und Lord Godalming seine Linke, Jonathan gab mir seine linke Hand und reichte die Rechte Mr. Morris hinüber. Hand in Hand schlossen wir unseren feierlichen Bund. Ich fühlte, dass es mir eiskalt ums Herz wurde, aber ich wollte meine Hände um nichts auf der Welt zurückziehen. Dann nahmen wir unsere Plätze wieder ein, und van Helsing fuhr mit einem Enthusiasmus fort, der mir zeigte, dass wir nun mitten bei der Arbeit waren. Er ging sie so ernsthaft und geschäftsmäßig an, als wäre es eine beliebige andere Tätigkeit:
»Sie wissen also jetzt, gegen wen wir zu kämpfen haben. Aber auch wir sind nicht ganz machtlos! Wir haben auf unserer Seite die Macht der Vereinigung, eine Macht, die dem Geschlecht der Vampire versagt ist. Wir haben die Wissenschaften, wir können frei denken und handeln, und die Stunden des Tages wie die der Nacht gehören uns gleichrangig. Mit anderen Worten, all unsere genannten Kräfte sind ungebunden und unbegrenzt, und wir können beliebigen Gebrauch von ihnen machen. Wir sind in der Sache selbstlos, und auch unser Ziel ist nicht egoistisch. Dies alles ist viel! Lassen Sie uns also fragen, inwiefern die uns entgegentretenden feindlichen Kräfte allgemeine Grenzen haben, und wo die individuellen Grenzen liegen. Mit
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