Dracula - Stoker, B: Dracula
wir zur Frage unserer nächsten Schritte kamen, beschlossen wir als Erstes, Mina wieder vollkommen ins Vertrauen zu ziehen, auf dass nichts, wie schmerzlich auch immer, vor ihr verborgen sei. Sie selbst erkannte die Notwendigkeit dieser Entscheidung an, und es war rührend, sie mitten in ihrem Elend und ihrer Trauer so tapfer zu sehen. »Nichts darf mehr verheimlicht werden«, sagte sie. »Leider haben wir bisher zu viele Geheimnisse gehabt. Davon abgesehen, kann mir kein größeres Leid mehr zugefügt werden als jenes bereits erlittene, an dem ich so schwer trage. Was auch immer sich ereignen mag, für mich kann es nur neue Hoffnung und neuen Mut bringen!« Van Helsing hatte sie aufmerksam angesehen, während sie sprach, und sagte dann plötzlich, aber ruhig:
|422| »Aber liebe Madame Mina, haben Sie denn keine Angst, nach allem, was geschehen ist? Nicht um sich selbst, sondern um andere – um uns, die wir mit Ihnen zu tun haben?« Ihr Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, aber ihre Augen leuchteten mit der Hingabe einer Märtyrerin, als sie antwortete:
»Oh nein! Ich weiß genau, was ich zu tun habe.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte er freundlich, während wir anderen schwiegen, denn jeder von uns hatte wohl eine eigene vage Vorstellung davon, was ihre Worte bedeuteten. Ihre Antwort klang unvermittelt sachlich, so als würde sie lediglich eine Tatsache konstatieren:
»Ich werde mich scharf beobachten, und wenn ich an mir selbst auch nur das geringste Anzeichen dafür entdecke, dass Ihnen von meiner Seite aus eine Gefahr droht, so werde ich sterben.«
»Sie werden sich doch nicht selbst töten wollen?«, fragte der Professor heiser.
»Natürlich, wenn ich keinen Freund finden sollte, der mich genug liebt, um mir den Schmerz und die Verzweiflung dieses Schrittes zu ersparen.« Bei diesen Worten sah sie ihn bedeutungsvoll an. Van Helsing hatte bisher gesessen, nun aber stand er auf, trat nahe an sie heran, legte seine Hand auf ihren Kopf und verkündete feierlich:
»Mein liebes Kind, hier ist dieser Freund, sollte dies zu Ihrem Besten nötig werden. Ich wollte es vor Gott wohl verantworten, Ihnen einen leichten und schmerzfreien Tod zu verschaffen, selbst in diesem Moment schon, wenn es nötig sein sollte. Nein, wenn es
sicher
sein sollte! Denn, mein gutes Kind …« – hier musste er sich unterbrechen, denn ein tiefer Seufzer stieg in ihm auf. Er schluckte hörbar, dann fuhr er fort:
»Hier sitzen ja immerhin einige, die sich zwischen Sie und den Tod stellen. Sie dürfen nicht sterben! Sie dürfen durch niemandes Hand sterben, erst recht nicht durch die eigene! Bis dieser andere, der Ihr junges Leben vergiftet hat, wahrhaft tot ist, dürfen Sie nicht sterben, denn solange er zu den wandelnden Untoten |423| gehört, würde Ihr Tod Sie zu Seinesgleichen machen. Nein, Sie müssen leben! Sie müssen kämpfen und sich ans Leben klammern, auch wenn der Tod Ihnen als unbeschreibliche Wohltat erscheinen sollte. Sie müssen sich gegen den Tod zur Wehr setzen, ob er nun in Schmerz oder in der Freude, bei Tag oder bei Nacht, in Sicherheit oder in der Gefahr zu Ihnen kommt. Um Ihrer unsterblichen Seele willen bitte ich Sie, sterben Sie nicht – nein, denken Sie nicht einmal an den Tod, bis dieses große Unheil vorbei ist!« Die Ärmste wurde leichenblass, sie schauderte und zitterte wie Treibsand bei Einbruch der Flut. Wir alle waren still, denn wir konnten nichts tun. Endlich wurde sie wieder etwas ruhiger, wandte sich van Helsing zu, reichte ihm ihre Hand und sagte freundlich, aber unendlich traurig:
»Ich verspreche Ihnen, teurer Freund, dass, wenn Gott mich leben lässt, auch ich nach dem Leben streben werde, bis seine Güte dieses Entsetzen von mir nimmt.« Sie war so gut und so tapfer, dass wir alle in unseren Herzen die Kraft fühlten, für sie zu kämpfen und zu leiden. Dann begannen wir, über unsere nächsten Schritte zu sprechen. Ich teilte Mina mit, dass sie alle Papiere im Safe finden würde, und dass zukünftig alle Aufzeichnungen, Tagebücher und Zylinder des Phonographen dorthin kämen. Die Betreuung der Unterlagen wurde ab sofort wieder an sie übergeben, worüber sie sehr erfreut war, soweit der Ausdruck »erfreut« in einer so grausigen Angelegenheit überhaupt anwendbar ist. Immerhin kann sie so wenigstens etwas tun.
Wie gewöhnlich war van Helsing mit seinen Gedanken uns anderen schon wieder weit voraus, und er hatte die einzelnen Aufgaben bereits ausgearbeitet und zugeordnet.
»Es
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