Dracula - Stoker, B: Dracula
Geheimnis, kein Versteckspiel geben. Ich hatte einen furchtbaren Schock, und wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, beginnt mein Verstand zu taumeln, sodass ich nicht mehr weiß, was Wirklichkeit ist und was die Fantasie eines Wahnsinnigen. Wie du weißt, hatte ich ein Nervenfieber, und das bedeutet, dass man irre ist. Das Geheimnis ist hier drin, aber ich will es nicht kennen. Ich will mein Leben stattdessen jetzt und hier wieder neu aufnehmen, indem ich dich heirate.« Meine Liebe, Du kennst ja unseren Entschluss zur Hochzeit, sobald alle notwendigen Formalitäten erfüllt sind. Er fuhr fort: »Nun, Wilhelmina, frage ich dich: Bist du gewillt, mir meine Unkenntnis in dieser Sache zu erhalten? Hier ist das Tagebuch, nimm es und bewahre es auf. Lies es, wenn du magst, aber halte seinen Inhalt von mir fern, es sei denn, es entsteht eine Situation, die es unabdingbar macht, mir die bitteren Stunden ins Gedächtnis zurückzurufen, über die ich hier, schlafend oder wachend, gesund oder im Wahnsinn, Buch geführt habe.« Er sank erschöpft zurück, und ich legte das Buch unter sein Kissen und küsste ihn. Ich habe Schwester Agatha zum Superior gesandt und ihn für heute Nachmittag um unsere Vermählung gebeten. Ich erwarte seinen Bescheid …
Sie ist wieder zurückgekommen und hat mir mitgeteilt, dass nach dem Kaplan der englischen Gesandtschaft geschickt wurde. In einer Stunde werden wir getraut, oder besser: sobald Jonathan erwacht …
Lucy, der große Augenblick kam so schnell und ist schon vorüber. Mir ist sehr festlich zumute, und ich bin überglücklich! Jonathan erwachte etwas nach der verabredeten Stunde, und alles war bereit. Er setzte sich im Bett auf, hinter seinen Rücken hatten wir ihm Kissen gelegt, um ihn zu stützen. Er sagte sein »Ich will!« fest und entschieden, ich aber konnte kaum sprechen, mein Herz war so voll, dass sogar diese zwei einfachen Worte |157| mich zu ersticken schienen. Die Ordensschwestern waren alle so gütig, nie werde ich sie vergessen und den großen Dank, den ich ihnen schulde. Ich muss Dir aber nun von meinem Hochzeitsgeschenk erzählen: Als der Kaplan und die Schwestern mich mit meinem Mann allein gelassen hatten – oh, Lucy, es ist das erste Mal, dass ich schreibe »mein Mann« –, nahm ich das Notizbuch unter seinem Kissen hervor und wickelte es in weißes Papier. Dann verknotete ich es mit einem Stückchen blauen Bandes von meinem Brautkleid, versiegelte es über dem Knoten und benützte meinen Trauring als Petschaft. Ich küsste das Paket, zeigte es meinem Mann und sagte ihm, dass ich es so fürs ganze Leben aufbewahren wolle als äußeres, sichtbares Zeichen unseres gegenseitigen Vertrauens; dass ich es nie öffnen wolle, außer, es wäre um seiner selbst willen oder in Erfüllung irgendeiner ernsten Pflicht. Dann nahm er meine Hand in die seine – ach Lucy, es war das erste Mal, dass er die Hand
seiner Frau
ergriff – und sagte, dies wäre das Schönste auf der Welt und er würde dafür gerne noch einmal all das Vergangene durchmachen, wenn es nötig sein sollte. Er meinte damit natürlich nicht
alles
Vergangene, sondern nur die Zeit vor seiner Reise, aber er hat noch überhaupt kein Zeitgefühl, und es sollte mich nicht wundern, wenn er nicht nur die Monate durcheinanderbringt, sondern auch das Jahr nicht weiß.
Nun, Liebste, was konnte ich darauf erwidern? Ich konnte ihm nur versichern, dass ich die glücklichste Frau auf der Welt sei, dass ich ihm nichts weiter zu geben hätte als mich selbst, mein Leben und mein Vertrauen, und dass ihm zusammen mit diesen meine Liebe und Treue bis ans Ende meines Lebens gehörten. Als er mich daraufhin mit seinen schwachen Händen an sich zog und küsste, da war es wie ein heiliges Gelübde zwischen uns …
Lucy, meine Liebe, weißt Du, warum ich Dir das alles erzähle? Nicht nur, weil es mir selbst Freude macht, sondern auch, weil Du mir so unendlich lieb warst und bist. Ich hatte das große Glück, Deine Freundin und Helferin zu sein, als Du aus der |158| Schule kamst und Dich auf das Erwachsenenleben vorbereitetest. Ich freue mich nun, Dir zeigen zu können, wohin das Leben
mich
geführt hat. Blicke froh auf Deine Freundin und werde in Deiner eigenen Ehe ebenso glücklich, wie ich es bin. Ich bitte den Allmächtigen, dass das Leben Dir alles schenken möge, was Du Dir erhoffst, dass Deine Ehe ein langer Sonnentag ohne raue Winde, ohne Pflichtvergessenheit und ohne Misstrauen sein möge. Ich kann nicht darum bitten,
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